Dietmar Wittich (Berlin): "Informationsarbeiter" als "Arbeitskraftunternehmer" - neue Formen der Selbstständigkeit und Abhängigkeit im Computerzeitalter

Eine gemeinsame Veranstaltung in der Reihe Mensch, Technik, Bildung im Computerzeitalter
der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen und des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Ein Bericht

In der vorläufig letzten Veranstaltung unserer Reihe standen aus dem Spektrum der komplexen Umbruchprozesse hin zum Computerzeitalter die Veränderungen in der Struktur der Berufsfelder im Mittelpunkt. Als Referent zu diesem Thema war unserer Einladung der Berliner Soziologe Dietmar Wittich gefolgt (Der ebenfalls eingeladene Frank Herrmann aus Essen war leider erkrankt).

Mit der deutlich gewachsenen Rolle von Information, Kommunikation und Wissen, die wir bereits in früheren Veranstaltungen unserer Reihe thematisierten, bekommen auch Berufsfelder mit entsprechender Ausrichtung eine zentrale Bedeutung. D. Wittich hat sich dazu bereits in mehreren Publikationen zu Wort gemeldet, so etwa in [Wittich], wo er eine Einordnung des "Informationsarbeiters" ins Spektrum der Klassen, Schichten und Gruppen der modernen kapitalistischen Gesellschaft vorschlägt.

Überlegungen zu einer solchen Einordnung bildeten auch den Kern der Ausführungen des Referenten auf unserer Veranstaltung. Er betonte zunächst, dass sich mit dem Einsatz von Computern, den Möglichkeiten moderner Kommunikationstechnologien und dem rasch wachsenden Bestand an elektronisch über Netzwerke verfügbaren Daten nicht nur völlig neue Berufsfelder eröffnen, sondern auch traditionelle Berufsfelder ihre Inhalte und Charakteristika grundlegend geändert haben. "Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien machen den Kapitalismus in seiner heutigen Form überhaupt erst möglich".

Diese "Informationsarbeiter" sind allerdings in Prozesse sehr unterschiedlicher Ausrichtung und Wirkdimension eingebunden, was ihre Abgrenzung aus soziologischer Sicht erschwert. In der Diskussion wurde deshalb hinterfragt, ob eine solche allgemeine Kategorie, auch wenn sie D. Wittich nur als Metapher verstanden wissen wollte, überhaupt sinnvoll ist. Schließlich ist der Informationsbegriff selbst zu allgemein und ungenau, um von ihm ausgehend die komplexen Umbruchprozesse in der Wissenssphäre unserer Gesellschaft zu analysieren, wie in unseren Veranstaltungen am 24.6.2001 ("Wissens-Ko-Produktion" mit K. Fuchs-Kittowski) und am 8.12.2001 (Workshop "Wissen in der modernen Gesellschaft" mit S. Meretz und H. Laitko) bereits deutlich wurde.

D. Wittich schlug deshalb eine weitere innere Differenzierung der Gruppe der Informationsarbeiter vor in

  1. Informatiker in Wissenschaft und Forschung, die neue IuK-Technologien entwickeln, weiterentwickeln, fundieren und systematisieren (die Kerngruppe der Informationsarbeiter);
  2. Informatiker, Fachwissenschaftler und Ingenieure, die diese Technologien in anwendungsorientierten Lösungen ein- und umsetzen;
  3. die kreativen Anwender, die in Software gegossene technologische Lösungen für eigene Zwecke modifizieren und anpassen;
  4. die pragmatischen Anwender, die vorhandene Software einsetzen "wie sie ist", und
  5. die Berufsgruppen, deren Arbeitsfelder Teil der Informations- und Kommunikationstechnologien sind wie etwa Mitarbeiter in Callcentern.

Diese Unterteilung orientiert sich, abgesehen von der letzten Gruppe, an der Stellung zum Prozess der Entwicklung, Verbreitung und Nutzung von Software. Die letzte Gruppe wird durch ihre Stellung in einem spezifischen Produktionssegment gekennzeichnet und unterscheidet sich auch in anderen Merkmalen deutlich von den anderen vier Gruppen. Sie sind die "Fließbandarbeiter" des Computerzeitalters, deren Arbeitstakt durch die Computersysteme vorgegeben wird, an denen und für welche sie arbeiten. Die ersten vier Gruppen sind dagegen eher durch ihre Arbeit mit dem Computer gekennzeichnet.

Insbesondere für die Gruppen 2 bis 4, die Computertechnologien in spezifischen Anwendungsfeldern einsetzen und dabei klassische durch moderne Methoden ablösen, wird der fachübergreifende Charakter der IuK-Technologien sichtbar. Für sie ist charakteristisch, dass sich ihr Berufsfeld nur teilweise als "Informationsarbeit" bezeichnen lässt, denn sie müssen zugleich in verschiedenem Ausmaß Fachkraft auf dem jeweiligen Anwendungsgebiet sein. B. Buchberger bezeichnete diesen Aspekt der Computertechnologien einmal als die "technologische Seite des Denkens".

In diesem Sinne wird jeder Mensch, der in Zukunft am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess aktiv und wenigstens in gewissem Rahmen selbstbestimmt teilhaben möchte, in Teilen ein Informationsarbeiter sein. Daraus resultiert die auch von D. Wittich erhobene Forderung, Computernutzung genau wie Lesen, Schreiben und Rechnen als "Kulturtechnik" zu begreifen, auch wenn P. Rechenberg in [Rechenberg] gewichtige Argumente gegen solche Schlagworte ins Feld führt.

Informationsarbeiter sind in diesem Verständnis diejenigen, die überhaupt noch für den modernen Kapitalismus "verwertbar" sind. Die hiermit verbundene Ausgrenzungsproblematik ist heute erst in Ansätzen erkennbar; ihre hohe soziale Sprengkraft dagegen offensichtlich. Sie wurde in der Diskussion ebenfalls angesprochen, ohne jedoch auch nur ansatzweise zu Lösungsvorschlägen zu kommen.

Der Querschnittscharakter von "Informationsarbeit" findet zugleich seinen Ausdruck darin, dass es Computertechnologien ermöglichen, auf dem Feld der Arbeits- und Produktionsorganisation vollkommen neue Dimensionen zu erschließen. Dieses Thema wurde in unserer Reihe bereits aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet ([FK], [Kreschnak]). Eine ausführliche Argumentation enthält [Meretz-Schlemm]. Die netzartigen, "fraktalen" Strukturen einer solchen modernen Produktionsorganisation erlauben und erfordern es, "Individualität als Grundlage der neuen Produktion" in viel stärkerem Maße zu entfalten als bisher üblich - "unter kapitalistischen Bedingungen ein hoch widersprüchlicher Prozess" (Zitate aus [Meretz-Schlemm], (20)). Individualität, die dabei zunächst als Individualisierung daher kommt, aber über vielfältige kommunikative Prozesse an Gesellschaftlichkeit rückgebunden werden muss und wird, führt auch zu neuen, dieser "Gesellschaftstopologie" entsprechenden Zusammenhängen, die sich längs von Prozessgrenzen konstituieren. Die Dynamik dieser Phänomene, die Binnenstruktur der "Informationsarbeit", wurde auf unserer Veranstaltung allerdings nicht angesprochen.

Literatur

[FK]
K. Fuchs-Kittowski: Wissens-Ko-Produktion: Verarbeitung, Verteilung und Entstehung von Informationen in kreativ-lernenden Organisationen.
In: Christiane Floyd, Wolfgang Hofkirchner (Hrsg.): Stufen zur Informationsgesellschaft für alle.
Festschrift zum 65. Geburtstag Klaus Fuchs-Kittowskis.
Peter Lang-Verlag, Frankfurt 2001.

[Meretz-Schlemm]
S. Meretz, A. Schlemm: Zwischen Selbstverwertung und Selbstentfaltung. OpenTheory-Projekt (24. Jan. 2001)

[Kreschnak]
H. Kreschnak: Eigentum, Arbeitsteilung, Entscheidungsstrukturen (Manuskript, August 2001)

[Rechenberg]
P. Rechenberg: Mythen und Fetische im Computerzeitalter. LOG IN 9 (1999), Heft 2, S. 28 - 33

[Wittich]
D. Wittich: Klassenentwicklung und Klassenanalyse in kapitalistischen Metropolen. Utopie kreativ 124 (1998)

Hans-Gert Gräbe, 27.10.2002