(c) H.-G. Gräbe, 12/1999 Quelle: http://www.hg-graebe.de/Texte/Kommentare/ND/99-12-07.txt ================================================================ Zu M. Bries Beitrag zur Programmdebatte (ND 2.12.99) Vielen Dank für diesen besonnenen Ruf nach mehr Substanz in der programmatischen Debatte statt gegenseitiger Schuldvorwürfe und Ausgrenzungsbemühungen. Der theoretische Diskurs kommt sehr schleppend in Gang (schließlich redet man in der PDS ja schon fast ein Jahr lang darüber, ohne dass sich merklich etwas bewegt hätte) und manchen an der vielbeschworenen "Basis" beschleicht dasselbe seltsame Gefühl, wie die Autoren des Minderheitenvotums, dass hier etwas ohne ausreichende öffentliche Betrachtung in Sack und Tüten gepackt werden soll. Verstärkt wird ein solcher Eindruck noch durch einen BV, der von der großen Nachfrage nach ebendiesen Thesen offensichtlich mehr als überrascht ist. Jedenfalls waren sie bis heute in Leipzig nicht zu haben (außer natürlich im Internet). Auf diesem Hintergrund ist Michael Bries Vorsicht in seiner Argumentation nachzuvollziehen, die in der Warnung gipfelt, auf dem derzeit absehbaren Stand schon laut über eine Neufassung des Programms nachzudenken (wie D. Bartsch, ND 3.12.). Ich hoffe, dass diese Vorsicht nur taktischer Natur ist, denn die bestehenden Defizite sind in Wirklichkeit viel gravierender. Während im derzeit gültigen Programm bei der, auf empirischer Grundlage erfolgten, Analyse der "Chancen und Risiken der modernen Gesellschaft" deutlich das Gewicht bei den Risiken liegt, haben sich die Proportionen im Mehrheitsentwurf der Thesen verschoben. Auch wenn ich es, ähnlich wie M. Brie, als wichtig erachte, diese Chancen auszuloten (schon deshalb, weil bisher noch immer neue Gesellschaften im Schoße alter gereift sind), kann ich dem Mehrheitsentwurf wenig substanzielle Argumente entnehmen, die dies stützen. Der vage Versuch, den Modernebegriff inhaltlich überhaupt von einem neoliberalen Verständnis abzusetzen, zeigt, dass dieser Diskurs erst ganz am Anfang steht. Wichtige Fragen wie das Ende des Fordismus oder die Auswirkungen der informations- und kommunikationstechnologischen Revolution werden höchstens phänomenologisch aufgegriffen. Eine (für mich durchaus nachvollziehbare) Verbindung von französischer Revolution und sozialistischer Moderne wird in einem Nebensatz hingeworfen, ohne die verschiedenen Zeitskalen der Umbrüche zu thematisieren, die sich in unseren Tagen bündeln. In dem Licht ist ein (ausschließlicher) Begründungsbezug auf die Wende 1989 oder gar auf gravierende Veränderungen nach 1993 schlicht grotesk. Die Liste fehlender Ansätze kann man beliebig weiterführen. Damit sind wir bei der technischen Frage, wie ein solcher Diskurs zu führen sei. Offensichtlich ist es auf dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis nicht möglich, Chancen und Risiken gleichermaßen ins Auge zu fassen. M. Brie ruft deshalb auf, dies zunächst getrennt zu tun und so der PDS einen Pluralismus zu verordnen, der ihr auch bisher gut getan hat. Einen solchen Pluralismus strukturell auszuhalten bedarf es allerdings einiger Anstrengung, besonders seitens einer "Mehrheit". Diese "Mehrheit" würde damit jedoch nur innerparteilich das vorleben, was sie gesamtgesellschaftlich verordnen will. Kurz gesagt sollte jede der beiden Seiten erst einmal die eigenen Hausaufgaben machen, ehe sie versucht, der PDS als Ganzes einen Spagat aufzuzwingen, den diese nicht aushalten kann. Die "Minderheit" (also die Seite, die stärker die Risiken thematisiert) hat hierzu mit dem Marxistischen Forum bereits eine Struktur geschaffen, mit der breitere Kreise der PDS in diesen Diskurs einbezogen sind. Auch für den "Mehrheits"flügel (die Seite, die stärker die Chancen thematisiert) liegt deutlich mehr auf dem Tisch als Eingang in die programmatischen Thesen gefunden hat. Allerdings habe ich den Eindruck, dass man hier eher das antiquierte Modell des "Think tank" bevorzugt, um solche Positionen mehr schlecht als recht zu bündeln.