(c) H.-G. Gräbe, 09/1999 Quelle: http://www.hg-graebe.de/Texte/Kommentare/ND/99-09-04.txt ================================================================ Zu Uwe Heuers Antwort auf Gysis 12 Thesen (ND 3.9.99) Heuer vs. Gysi; eine inzwischen gut bekannte Konstellation und die ebenso bekannte Kontroverse zwischen den beiden theoretischen Flügeln der PDS. Heuer als Vertreter eines stärker kapitalismuskritischen Ansatzes steht Gysis Versuch, den Modernebegriff mit sozialistischen Inhalten zu verknüpfen und somit neu zu besetzen, skeptisch gegenüber. Andere schreien bereits lauthals von einer "Sozialdemokratisierung der PDS". Allerdings verstellt der allein kapitalismuskritische Ansatz, so sehr man ihn bei all den Perversionen unserer Zeit nachvollziehen kann, den Blick auf einen entscheidenden Umstand: In den heutigen Krisen bündeln sich Umbrüche ganz unterschiedlicher Dimension. Neben der Frage der Überwindung des Profitprinzips zugunsten von Menschenwürde geht es wenigstens noch um eine technologische Revolution, die achtzig Jahre Fordismus beendet (Stichwort Ende / Zukunft der Arbeit) und die wohl als ursächlich für das Scheitern des Gesellschaftskonzepts der DDR zu benennen ist. Auch das Marxzitat von der "fortwährenden Umwälzung der Produktion" beschreibt kaum ein Phänomen, das nur für den Kapitalismus typisch sein dürfte. Statt dessen hat es wohl etwas mit dem Übergang vom agrarischen zum industriellen Produktionstypus zu tun, mit dessen Geburtswehen (was sind da schon 200 Jahre!) wir uns noch immer herumplagen. Und dann gibt es Leute wie P. Teilhard de Chardin, die Umbrüche wahrhaft kosmischen Ausmaßes konstatieren, nämlich den Übergang zu kollektiven Vernunftformen, ohne die die sozialen und ökologischen Probleme der Menschheit nicht zu meistern sein werden. Sie meinen, dass damit die Noosphäre, die in die Biosphäre eingebettete Vernunftsphäre, die sich auf unserem Planeten in Millionen von Jahren herausgebildet hat, eine neue Qualität erreicht. All diese Dimensionen verliert man mit Heuers Ansatz aus dem Blickfeld. Zudem ist er wohl auch ahistorisch, denn alle bisherigen neuen Gesellschaften haben sich im Schoße der alten entwickelt. Diese Weisheit auch auf Sozialismuskonzepte zu beziehen betrachte ich als eine der wichtigsten Lehren unseres "kurzen Jahrhunderts". Man kann Gysis Thesen einige Ungereimtheiten vorwerfen (etwa bei seinen Gedanken zur "Eigenarbeit", wo er historisch gesehen alte, im Schoße der Familie vollbrachte Reproduktionsarbeit und historisch gesehen neue Infrastrukturarbeit bedenkenlos in einen Topf wirft), aber gerade These 1 und 4 zeigen ein Weltverständnis, hinter das die PDS nicht mehr programmatisch zurückfallen sollte. Viele Fragen bedürfen noch genauerer Diskussion und detaillierterer Antwort, aber sie müssen sich wenigstens aufdrängen. Man könnte über die Kontroverse hinweggehen und sie als akademisch abgehoben betrachten. Allerdings hat sie eine weitreichende Konsequenz: Heuers Ansatz führt logisch zum Thema Klassenkampf und einem konfrontativen Weltbild, Gysis dagegen (und hier ist These 4 zentral) zu einem bereits heute solidarischen und konsensorientierten. Dieses emotionale Selbstverständnis wird für die politische Wirksamkeit der PDS langfristig von ausschlaggebender Bedeutung sein. In einem Zeitalter, wo selbst die Wirtschaftselite das Wort "strategische Allianz" fast genauso häufig wie "Wettbewerb" im Munde führt, sollte man die subtile Sprengkraft solidarischer Konzepte nicht gering schätzen.