"Die Allmählichkeit der Revolution" - Rainer Thiel zu Gast
bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen

Evolution - der langsame, allmähliche Übergang von einem Zustand zu einem anderen; Revolution - die Zuspitzung aller Widersprüche bis zur Unerträglichkeit, um den Knoten dann mit einem Hieb zu durchschlagen. So etwa lässt sich die "landläufige" Vorstellung von beiden Begriffen zusammenfassen, die in der Programmdebatte der PDS im Streit zwischen 'Modernisierern' und 'Minderheitsvotum' eine zentrale Rolle spielen und in der Auseinandersetzung in Schlagworten wie "Sozialdemokratisierung", "Abweichung vom Marxismus" oder "Dogmatiker" ihren Ausdruck findet.

Wie aber ist der Übergang zu einer sozialistischen Alternative von heutigen gesellschaftlichen Zuständen aus wirklich zu denken? Laufen Umbrüche in der heutigen hochkomplexen, vielfältig strukturierten Gesellschaft wirklich nach einem solchen - von mir nur grob skizzierten - "Revolutions"-Szenario ab? Entwickeln sich Verhältnisse hin zu einem Kulminationspunkt oder einer solchen -linie, längs welcher sie plötzlich umschlagen in eine neue Qualität? So wie Wasser bei 100° vom flüssigen in den gasförmigen Zustand übergeht, um ein weit verbreitetes Bild aus der ML-Sekundärliteratur zu diesem Thema aufzugreifen?

Aber wer Wasser schon einmal erhitzt und beim Verdampfen beobachtet hat, der weiß, dass dieser Übergang nicht plötzlich, sondern in einem längeren Prozess vor sich geht, der einer eigenen Dynamik folgt und eigene Strukturen herausbildet wie etwa die bekannten Konvektionszellen, bestehend aus Dmpfbläschen, dem Neuen, und der in Bewegung geratenen Flüssigkeit, dem Alten. Kein Knall, sondern ein eigenständiger Prozess des Übergangs mit komplexer Dynamik und Strukturen von geometrischer Regelmäßigkeit und eigentümlicher Schönheit.

Wenn wir heute über linke programmatische Ansätze nachdenken, dann gilt es auch, ein vereinfachtes Verständnis vom Ablauf revolutionärer Veränderungen zu hinterfragen, um die für linke Alternativen wichtigen Prozesse und Veränderungen in der Gesellschaft wahrzunehmen und deren Dynamik richtig zu beurteilen. Diesen Anspruch formulierte bereits der "Kommentar zur Programmatik der PDS" (Dietz Verlag Berlin, 1997) ohne dass bisher ausreichend deutlich wird, worin genau die Keime des Neuen und das in Bewegung geratene Alte zu sehen sind.

Grund genug für uns, in die Veranstaltungsreihe "Mensch, Technik, Bildung im Computerzeitalter" der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen am 6.4.2001 mit Rainer Thiel einen guten Kenner dieser Problematik einzuladen. Als enger Mitarbeiter von Georg Klaus war unser Gast in entsprechende Diskussionen in der DDR der 60er Jahre einbezogen und konnte später im Rahmen der von ihm organisierten Erfinderschulen das Entstehen, Werden, Durchbrechen und Etablieren von revolutionierenden Ideen im technischen Bereich genauer studieren. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch "Die Allmählichkeit der Revolution" zusammengefasst, das im Jahr 2000 als Band 6 der von Herbert Hörz herausgegebenen Reihe "Selbstorganisation sozialer Prozesse" im LIT-Verlag erschienen ist.

Rainer Thiel belegte Allmählichkeit von Revolution mit einem "Blick in sieben Wissenschaften" (so der Untertitel des Buches), um Auge und Sinne zunächst für die Allgegenwart allmählicher Revolutionen zu schärfen. Ob in Bildern von Escher (Verwandlung geometrischer Figuren über die Bildfläche hin zu ihrem Gegenteil), der Paradoxie vom Haufen (wann beginnt ein Haufen, ein Haufen zu sein?) oder in einem Gedicht von Goethe, das den Übergang von der Nacht zum Tag beschreibt - überall ist dasselbe Grundmuster anzutreffen: Herausbildung von Keimen des Neuen, ihr Wachsen und gegenseitige Vernetzung, ihr Durchbrechen zur bestimmenden Struktur und schließlich ihre allgegenwärtige Etablierung. Nirgends die Zuspitzung, Grenzlinie, der große Krach. Oder im Fünfschritt der Revolution zusammengefasst, wie ihn die "Gegenbilder" [2] um Annette Schlemm in Anlehnung an Klaus Holzkamp formuliert:

  1. Keimformen des Neuen, die später systemsprengende Qualität gewinnen,
  2. Erschöpfung der Rahmenbedingungen, unter denen die bisherigen Reproduktionsschemata stabil waren,
  3. Funktionswechsel - Umbruch der Keimformen zu einer bedeutenden Entwicklungsdimension,
  4. Dominanzwechsel - das Neue mit seinen Kommunikations- und Lebensformen entwickelt eine Ausstrahlung, die alte Dominanz entmachtet,
  5. Umstrukturierung - Aufräumen und Umbau aller Beziehungen entsprechend den neuen Prinzipien.
Es ist müßig zu erwähnen, dass Marx an vielen Stellen seines Werks ein ähnliches Verständnis von Revolution entwickelt hat und die Verballhornung und Verkürzung auf Revolution als "großer Krach" ein zentrales Merkmal des Marxismus stalinistischer Prägung ist. Auch dies kann bei Rainer Thiel facettenreich nachgelesen werden.

Ein Verständnis vom Verlauf gesellschaftlicher Veränderungen als "Revolution im Fünfschritt" schließt den Bogen zu früheren Veranstaltungen unserer Reihe, in denen wir bereits versucht haben, solche Keime zu identifizieren und ihre Dynamik zu prognostizieren, wie etwa in der Diskussion mit Christoph Spehr am 24.3. um die Rolle freier Kooperation, mit Stefan Merten und Wolf Göhring am 4.2. über "freie Software für eine freie Gesellschaft", aber auch mit unserem Kolloquium "Bildungsanforderungen im 21. Jahrhundert" am 30.9.2000, dessen Materialien inzwischen gedruckt vorliegen (in der Reihe "Beiträge und Schriften" des PDS-Landesverbandes Sachsen).

Die Diskussion mit Rainer Thiel hat noch einmal aufgezeigt, dass ein solches Denken in Keimen und Aufdecken ihrer subtilen nichtlinearen Dynamik für linkes Denken ebenso wichtig wie ungewohnt ist. Besonders der gar nicht so enge Zusammenhang zwischen Determiniertheit, Bestimmtheit und Gesetzmäßigkeit wurde immer wieder angesprochen, den Hubert Laitko [3] im Bild der Multioptionalität einer nach vorn offenen Gesellschaft einzufangen versuchte, die immer auch überraschende und im Vorhinein nicht geplante und auch nicht planbare Wendungen als Option bereit hält.

Die Quellen einer solchen Multioptionalität von Gesellschaftsentwicklung - die sehr individuellen Wissens- und Erfahrungshorizonte ihrer einzelnen Mitglieder - werden uns in unserer Veranstaltungsreihe auch weiterhin beschäftigen, die wir am 26. Mai fortsetzen mit einer Diskussion zum Thema "Wissen in der modernen Gesellschaft" mit Prof. Klaus Fuchs-Kittowski (Berlin) fortsetzen.

Literatur

[1]
Rainer Thiel: Die Allmählichkeit der Revolution - Blick in sieben Wissenschaften. Reihe "Selbstorganisation sozialer Prozesse", Bd. 6, Hrg. Herbert Hörz. LIT Verlag Münster, Juli 2000
[2]
Gruppe "Gegenbilder": Freie Menschen in freien Vereinbarungen. OT-Projekt
[3]
Hubert Laitko: Bildung als Funktion einer multioptionalen Gesellschaft. UTOPIE kreativ, H. 127 (Mai 2001), S. 405-415. (pdf)

Hans-Gert Gräbe, Leipzig - 9.4.2001