"Bildung als Funktion einer multioptionalen Gesellschaft" - so war Hubert Laitkos Beitrag zum Auftaktkolloquium "Bildungsanforderungen im 21. Jahrhundert" unserer Veranstaltungsreihe im September 2000 überschrieben (der Text ist inzwischen in Utopie kreativ, Heft 127, erschienen). Wenn heute über eine moderne Fundierung linker Programmatik nachgedacht wird, kommt dem besseren Verständnis einer solchen Multioptionalität von Zukunft, dem Nachdenken über Möglichkeiten einer verantwortungsvollen Vorbereitung auf zukünftige Entscheidungsoptionen sowie den dazu erforderlichen gesellschaftlichen Arrangements eine wichtige Rolle zu.
Klassische Ansätze wie der von einer "einheitlichen wissenschaftlichen Weltanschauung" als Grundlage solcher Entscheidungen haben ihre praktische Unbrauchbarkeit dabei genauso unter Beweis gestellt wie das "laissez faire" neoliberaler Konzepte, die Entscheidungsoptionen und Entscheidungen vorwiegend aus den Selbstregulationsmechanismen von Märkten zu begründen suchen.
Ein weiterer Spannungsbogen öffnet sich zwischen der immer stärkeren Betonung individueller Entscheidungsoptionen und -spielräume, die moderne Managementtheorien selbst abhängig Beschäftigten weitgehend einräumen, und dem angesichts globaler Herausforderungen wachsenden globalen Koordinierungsbedarf.
Obwohl es sich dabei um zentrale Zukunftsfragen handelt, bleibt dieses Fragenbündel weitgehend eine terra incognita in der PDS-Programmdebatte. Dies gilt selbst für jene Ansätze in Richtung Selbstentfaltung und freie Kooperation, die sich in den PDS-Programmentwürfen 1 und 3 zum Teil wiederfinden.
Multioptionalität bedeutet dabei keineswegs Beliebigkeit von Handlungsoptionen, sondern stellt ein strukturiertes Feld von Möglichkeiten und Wünschbarkeiten dar, dessen prospektive theoretische Durchdringung einigen Aufwand erfordert, also Arbeit erheischt. Arbeit, die auch dann anzuerkennen ist, wenn sie sich auf Optionen bezieht, die letztlich nicht realisiert werden. Dies sei hier allerdings nur in Parenthese bemerkt (und den Diskutanten des Themas "Zukunft der Arbeit" ans Herz gelegt), denn in der Veranstaltung unserer Reihe am 2. Februar 2002 mit Prof. Herbert Hörz (Berlin) und Prof. Frank Richter (Freiberg) ging es vor allem darum, die Art der Strukturierung dieses Felds der Möglichkeiten und Wünschbarkeiten genauer auszuloten.
Der Ausgangspunkt der auf die einführenden Bemerkungen folgenden Diskussion - festgemacht an der aktuellen "Entschuldigungsinflation" der PDS-Parteispitze - bewegte sich um die Frage, wie weit Prozesse überhaupt prognostizierbar (und damit verantwortbar) sind und - gerade im Bereich komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge - etwas "gesetzmäßig" ablaufen könne, oder ob nicht stärker zwischen (prototypischen) Gesetzen und dem einmaligen, nicht wiederholbaren historischen Prozess zu unterscheiden sei, in dem sich "jedes Ereignis als Komplex von Kausalbeziehungen realisiert" (F. Richter).
H. Hörz hatte dazu vorab mit [1] bereits aristotelische Argumente ins Feld geführt, mit denen sich die Vielfalt der causa konkreter Prozesse wenigstens grob klassifizieren lassen. In der Diskussion wies er darauf hin, dass auch schon in der DDR ein allzu enges Ursache-Wirkungs-Verständnis an praktische Grenzen (etwa bei Anwendungen im Strafrecht) stieß und durch Komponenten wie "begünstigende Bedinungen" ergänzt wurde, was eine graduelle Abstufung in den Ursache-Wirkungs-Komplex hineingetragen hat.
In der weiteren Diskussion wurde der "Spannungsbogen zwischen Zufall und Gesetzmäßigkeit" (F. Richter) deutlich, der sich aus einer solch graduellen Abstufung der Wesenlichkeit von Ursachen ergibt, ohne damit bereits Zufallserscheinungen an Bifurkationspunkten zu erfassen. Gesetzesartig lassen sich stets nur (niederdimensionale) Projektionen eines komplexen Prozesses beschreiben, die "unwesentliche" Dimensionen ausblenden.
Ein solchen Ausblenden (je unterschiedlich) "unwesentlicher" Dimensionen ist jedoch zugleich eine Quelle von Pluralität, verstanden als je unterschiedliche Sicht auf dieselbe Realität. Pluralität in einem solchen Sinne schließt allerdings den Anspruch ein, unterschiedliche Sichten nicht nebeneinander stehen zu lassen, sondern sich um ein stimmiges gemeinsames Bild zu bemühen. Dieses Bemühen erfordert Kommunikation, gemeinsames Ringen und Respekt vor den Wurzeln der Anderen. H. Hörz betonte dies besonders mit Blick auf die PDS-Plattformen, die sich alle in der einen oder anderen Form auf Marx beziehen und ihre Ergebnisse deshalb für eine Fortschreibung marxistischer Theorie relevant sind. Dabei sollten wichtige Traditionslinien mit hoher gesellschaftlicher Akzeptanz in der Mitte stehen: Friedensproblematik, Sicherung sozialer Existenzbedingungen, Ökologie und Nachhaltigkeit.
Nachbemerkung: Aufbohren pluraler Sichtweisen aus ihren verschiedenen Wurzeln heraus hin zu einem gemeinsamen Verständnis ist ein recht kompliziertes Vorhaben und - mit Blick auf die höhere Zahl theoretisch einzubeziehender Dimensionen - nur bis zu einem gewissen Grad möglich bzw. (unter Effizienzgesichtspunkten) sinnvoll. Das hat seine Auswirkungen auf praktische Bewegungsformen von Multioptionalität gesellschaftlicher Zukünfte: Es sind Entscheidungsstrukturen erforderlich, die diese unterschiedlichen Sichten auch nach anderen als wissenschaftlichen Kriterien würdigen und wichten können, wobei sich individuelle Entscheidungsspielräume (im Sinne der Emanzipationsthese - These 4 in [3]) nur ergeben können als Einheit aus Freiräumen und Kompetenz, aus Vertrauen und Verantwortlichkeit. Damit verbinden sich sowohl individuell als auch gesellschaftsbezogen Anspruch und Herausforderung. Die hauptsächliche individuelle Herausforderung besteht in der Aneignung und Entwicklung von Kompetenz, um Freiräume verantwortlich zu gestalten. Die hauptsächliche gesellschaftliche Herausforderung besteht in der Schaffung von Freiräumen, in denen kompetente Individuen Verantwortung übernehmen können, sowie von Bedingungen, unter denen sich Kompetenz eigenverantwortlich reproduzieren und weiter entwickeln lässt.
Hans-Gert Gräbe, Leipzig, 6.2.2002