Vortrag auf dem Kolloquium "Bildungsanforderungen im 21. Jahrhundert" der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen am 30. Sept. 2000 in Leipzig

Erschienen in Utopie kreativ, Heft 125, März 2001


Mathematische und informatische Kompetenz im Computerzeitalter

Hans-Gert Gräbe, Leipzig, 8. Dezember 2000

Zusammenfassung
Betrachtet man die gesellschaftlichen Umbrüche hin zu einer "Informations- und Wissensgesellschaft" unter dem Aspekt zunehmender Bedeutung von Kompetenz, so gewinnen Fragen nach Umfang und Struktur des Wissens, das dafür in einem lebenslangen Lernprozeß erworben, stets erneuert und aktualisiert werden muß, an Bedeutung.
In diesem Beitrag wird am Beispiel des symbolischen Rechnens, einem Fachgebiet zwischen Mathematik und Informatik, verdeutlicht, welche Bedeutung diese beiden Querschnittswissenschaften für eine "Kultur des Denkens" weit über die Grenzen des eigenen Fachs hinaus besitzen sowie die Dynamik dieser Bedeutung im Computerzeitalter beleuchtet.

Summary
If we consider the deep changes in our society towards an information and knowledge society from the perspective of increasing significance of competency, we are led to the question about scope and structure of the knowledge to be obtained, updated and exchanged in a lifelong learning process.
This article focusses on the increasing role of symbolic computations, a field between mathematics and computer science, in science and engineering. It emphasizes on the importance of knowledge from these both disciplines for a "culture of thinking" far beyond the areas of these fields themselves and sheds some light on the dynamism of this importance in the age of computers.

Deutschland auf dem Weg in die Informationsgesellschaft?

"Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien lösen nach allgemeiner Einschätzung einen technisch-wirtschaftlichen Wandel aus, der in Ausmaß und Folgewirkungen mit dem Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft zu vergleichen ist. Begriffe wie 'Datenautobahnen' und 'Multimedia' kennzeichnen diesen Wandel hochindustrialisierter Volkswirtschaften zu 'Informationsgesellschaften'", heißt es im Bericht "Info 2000" 1 der Bundesregierung aus dem Jahre 1996. Auch wenn ich 'Datenautobahn' und 'Multimedia' nicht als die zentralen Elemente einer solchen Produktivkraftrevolution ansehe, so besteht in der Tat wenig Zweifel daran, daß wir Zeugen eines grundlegenden gesellschaftlichen Umbruchs sind, mit dem "eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform" im Entstehen begriffen ist, "in der der produktive Umgang mit der Ressource 'Information' und die wissensintensive Produktion eine herausragende Rolle spielen" werden (ebenda).

Ähnlich munter geht es in anderen für die Öffentlichkeit bestimmten regierungsamtlichen Schriften zur Sache wie etwa dem Report "Die Informationsgesellschaft" 2 des BMWi vom November 1995. Wir werden überhäuft mit Schlagworten und Fakten wie "... Gigabitchips ... Subnotebooks, kleiner und leichter als ein Telefonbuch ... Global Engineering Network ... Der Computer wird zum universellen Kommunikationsmedium ... In jedem vierten deutschen Haushalt steht bereits ein Computer ... Internet ... 900 000 Zugänge zu Telekom-Online" 3. Die Euphorie scheint keine Grenzen zu kennen. Dabei sind all diese Effekte nicht voraussetzungslos zu erzielen. Im Gegenteil, sie bedürfen einer politischen Gestaltung von Rahmenbedingungen in einem Umfang und einer Tiefe, welche deutlich über bisher Gewohntes hinausgeht. Eine solche konkrete konzeptionelle und vor allem finanzielle Untersetzung ihrer vollmundig verkündeten Ziele bleibt uns die Politiksphäre oft genug schuldig. Im Gegenteil, der Mißklang zwischen Erfordernissen und zur Verfügung stehenden Ressourcen ist derart offensichtlich, daß Bürger mit gesundem Menschenverstand nur den Kopf schütteln, wenn sogar Ministerpräsidenten morgens ihre hehren Visionen verkünden und abends ihre leeren Taschen vorweisen. Ein solches fortdauerndes Trauerspiel bietet etwa die Aktion "Schulen ans Netz", deren Gründungsvater Prof. Rainer Busch bereits 1997 auf erhebliche Defizite hinwies 4, die aber bis heute nicht über das Thema "Sachinvestitionen" hinausgelangt ist. Die sich auftürmenden Defizite werden auch kaum durch Brain-Drain-Aktionen wie "Greencard für Inder" behoben, wie einer zunehmend kritischeren Öffentlichkeit immer deutlicher wird 5.

Eine etwas ausgewogenere Argumentation findet sich im Zwischenbericht "Eine europäische Informationsgesellschaft für alle" einer Gruppe hochrangiger Experten an die europäische Kommission vom Januar 1996 6. Ausgangspunkt dieses Berichts ist die Feststellung "Man muß aufhören, die Übertragung von Daten mit der Kommunikation zwischen Personen und dem Erwerb von Wissen gleichzusetzen." Im Mittelpunkt der Entwicklungen steht nicht Information, sondern Wissen und Kommunikation, so "daß die Informationsgesellschaft als 'lernende Gesellschaft' zu betrachten ist. ... Indem nicht die Informationsgesellschaft an sich, sondern die Lerngesellschaft in den Mittelpunkt gerückt wird, eröffnet sich zudem für die Debatte über die Informationsgesellschaft ein potentiell bedeutend positiverer Weg des Fortschritts."

Ein solches lebenslanges Lernen, die ständige Neuaneignung von Schätzen aus dem Wissenspool der Menschheit, die intensive Kommunikation über diesen Erfahrungsschatz als Ganzes und über seine Teile, wird zur immer wichtigeren Voraussetzung für eine aktive, selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß. Mit der Universalmaschine Computer 7 als Werkzeug gewinnt diese "Aneignung der allgemeinen Produktivkraft", des "gesellschaftlichen Gehirns" (Marx), für den Arbeitsprozeß eine zentrale Bedeutung, wird immer stärker "die Schöpfung des wirklichen Reichtums weniger abhängig von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder ... in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie." (MEW 42, S. 592)

Zugleich rückt die Dynamik dieses Wissenspools selbst, aus dem sich (im marktwirtschaftlichen Verständnis) alle wie aus einem unerschöpflichen Springquell bedienen, ins Zentrum gesellschaftlicher Fürsorge, die die notwendigen Ressourcen allokieren und organisieren muß, damit dieser Springquell nicht versiegt. 8

Ich werde in diesem Beitrag am Beispiel meines eigenen Fachgebiets, dem zwischen Mathematik und Informatik angesiedelten Symbolischen Rechnen, versuchen, einen Teil dieser Dynamik zu veranschaulichen. Vorab sei bemerkt, daß im deutschsprachigen Raum die Begriffe "symbolisches Rechnen" und "Computeralgebra" gewöhnlich synonym zur Kennzeichnung des Fachgebiets verwendet werden, um das es in diesem Beitrag geht. Ich werde im Weiteren den Begriff "symbolisches Rechnen" verwenden, wenn ich den Blick stärker auf die Potenzen des Fachgebiets fokussiere, den Begriff "Computeralgebra" dagegen, wenn ich dessen aktuelle Möglichkeiten thematisieren möchte.

Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zu curricularen Konsequenzen aus diesen Entwicklungen.

Zur Genese von Wissenschaft im Industriezeitalter

Ich beginne meine Betrachtungen mit einigen Ausführungen zur Genese des Wissenschaftsbegriffs im Allgemeinen, da dieser in seinem heutigen Verständnis als mannigfach verzweigte und verästelte funktionale Sphäre der Gesellschaft relativ jungen Datums ist.

Ich folge dabei den Ausführungen der Brockhaus-Enzyklopädie 9, wo unter dem Stichwort Wissenschaft zunächst festgestellt wird, daß bis hinein ins Mittelalter Wissenschaft ganzheitlich und mit dem Anspruch betrieben wurde, die Welt in ihrer gesamten Komplexität zu begreifen. Für Goethes Faust galt es noch, Philosophie, Medizin, Juristerei und Theologie, die vier Zweige eines klassischen wissenschaftlichen Studiums jener Zeit, nicht alternativ, sondern gemeinsam und in ihrer gegenseitigen Wechselbeziehung zu studieren. Zugleich war das Wissenschaftlerdasein elitär geprägt und "das Privileg meist wohlhabender, oft adliger Privatgelehrter" (ebenda, S. 278). Im Alltag spielten wissenschaftliche Kenntnisse eine absolut untergeordnete Rolle, ja selbst aus heutiger Sicht elementare Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die heute gern unter dem Wort "Kulturtechniken" zusammengefaßt werden, waren kaum verbreitet. 10

Das änderte sich grundlegend mit dem Aufbruch ins Industriezeitalter. Dieses begann mit der Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, genauer gesagt mit der Abspaltung der letzteren, die sich, statt ganzheitlicher Beschreibungen, stärker auf funktionale und kausale Erklärungen von Phänomenen ausrichten. Ein solches Verständnis ist die Basis und ermöglicht erst das "Eingreifenkönnen und Beherrschen natürlicher Prozesse und Dinge" (ebenda, S. 278).

Ursache für diese veränderte Stellung von Wissenschaft sind zweifelsohne die gewachsenen Anforderungen, die ein industriell organisierter Arbeitsprozeß sowohl an die beteiligten Akteure als auch an die geistige Durchdringung der Prozesse selbst stellt. Diese Art wissenschaftlicher Rationalität wird zum beherrschenden Wissenstypus im Bereich der Natur- und Technikwissenschaften, denen ich mich im Weiteren ausschließlich zuwenden werde. Zugleich beginnt Wissenschaft auch im Alltag eine wichtigere Rolle einzunehmen; abzulesen etwa an der Einrichtung von Volksschulen, die die Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens verbreiten.

Ein solcher Rationalitätsbegriff prägt das heutige Selbstverständnis der einzelnen Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, ...) als Fachwissenschaften: sie haben das Ziel, in der Natur ablaufende Prozesse aus der Sicht ihres jeweiligen Fachgebiets adäquat zu beschreiben und damit Modellvorstellungen zu entwickeln, auf deren Basis man Vorhersagen über diese Prozesse treffen oder sie sogar bewußt ausnutzen oder beeinflussen kann. Letzteres ist mit leicht anderer Schwerpunktsetzung auch Gegenstand der Technikwissenschaften.

Die "wissenschaftliche Strenge", die für eine solche Rationalität an den Tag zu legen ist, unterliegt fachübergreifenden Standards. Die Existenz derartiger Standards hat ihre Ursache nur zum Teil im gemeinsamen Ursprung der Einzelwissenschaften. Eine wesentlich wichtigere Quelle liegt in der gemeinsamen Methodologie und dem dabei verwendeten erkenntnistheoretischen Instrumentarium, das in einem vielfach durchlaufenen spiralförmigen Schema mit folgenden Phasen angeordnet werden kann:

Eine solche in Richtung zunehmender Abstraktion weisende Erkenntnisspirale ist typisch für die "reinen" Wissenschaften. Neben den Begründungszusammenhängen der jeweiligen Theorie sind hierbei die entwickelten Kalküle für das "Beherrschen und Eingreifenkönnen" von besonderer, über das enge Fachgebiet hinaus wirksamer Bedeutung.

Um Wissenschaften im Zuge zunehmender Industrialisierung produktiv werden zu lassen, spielt die Anwendbarkeit und Anwendung theoretischen Wissens auf die gesellschaftliche Praxis eine ebenso wichtige Rolle. Diese Domäne der "angewandten" und Technik- oder Ingenieurwissenschaften folgt einem anderen erkenntnistheoretischen Paradigma:

Übergreifende Gesetzmäßigkeiten dieser Erkenntnisprozesse sind Gegenstand von Querschnittswissenschaften, von denen hier vor allem Philosophie, Mathematik und inzwischen auch die Informatik zu nennen sind. Diese Fächer nehmen damit für die "wissenschaftliche Kultur" eine deutlich zentralere Stellung ein als die einzelnen Fachwissenschaften, da sie die Mittel für eine wissenschaftlich rationale Argumentation in jeder dieser Fachdisziplinen bereitstellen. Die Idee einer solchen "kulturvoll vorgetragenen Argumentation" wurde lange vor Beginn des Industriezeitalters geboren. Sie geht (mindestens) auf antike Traditionen zurück und spielte bereits im Trivium (Grammatik, Logik und Rhetorik) sowie Quatrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) der Klöster des Mittelalters eine wichtige Rolle 12.

Die genannten Querschnittswissenschaften überdecken dabei die gesamte thematische Breite wissenschaftlich rationaler Argumentation. Während die Philosophie die Denk- und Abstraktionsprozesse in ihrer Allgemeinheit zum Gegenstand hat, befaßt sich die Mathematik mit übergreifenden Gesetzmäßigkeiten, die beim Quantifizieren von Phänomenen auftreten. Quelle und Target dieser Bemühungen sind die entsprechenden logischen Strukturen der Einzelwissenschaften, die oft erst durch die Anstrengungen der Mathematik eine streng deduktiven Ansprüchen genügende Konsistenz erhalten. Die Mathematik leistet so einen unverzichtbaren und eigenständigen Beitrag für die methodische Fundierung der Einzelwissenschaften, ohne welchen letztere nur wenig über ein empirisches Verständnis ihres Gegenstands hinauskommen würden. Mathematik und mathematischen Methoden kommt damit besonders in der Phase der Hypothesen- und Theoriebildung, aber auch bei der Modellierung und Analyse realer Prozesse, ein wichtiger Platz für die Leistungsfähigkeit und argumentative Tiefe einzelwissenschaftlicher Erkenntnisprozesse sowie die praxisrelevante Implementierung ihrer Ergebnisse zu. Sie bildet außerdem die Grundlage einzelwissenschaftlicher Kalküle, egal, ob diese Quantenphysik, Elektronik, Statik oder Reaktionskinetik heißen. Mathematik ist in diesem Sinne die "lingua franca" der Wissenschaft, was Karl Marx zu der Bemerkung veranlaßte, daß "sich eine Wissenschaft erst dann als entwickelt betrachten könne, wenn sie dahin gelangt sei, sich der Mathematik zu bedienen".

Im Gegensatz zu spezielleren Kenntnissen aus einzelnen Bereichen der Natur- oder Ingenieurwissenschaften sind mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten damit in unserer technisierten Welt nicht nur in breiterem Umfang notwendig, sondern werden auch an verschiedenen Stellen des (Berufs-)Lebens selbst bei Facharbeitern oder vergleichbaren Qualifikationen schlichtweg vorausgesetzt. Formelsammlungen und technische Nachschlagewerke, Konstruktionsunterlagen und Kostenrechnungen, die qualifizierte Bedienung komplizierter Maschinen und Geräte erfordern heute nicht nur Gefühl und Augenmaß, sondern auch kalkulatorische Fähigkeiten, um Wirkzusammenhänge quantitativ genauer zu erfassen. Eine gewisse "mathematische Kultur", die über einfache Rechenfertigkeiten hinausgeht, ist damit heute für eine qualifizierte Teilhabe am sozialen Leben unumgänglich. Entsprechend gut sind die beruflichen Einstiegschancen für Mathematiker, wie die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV) in einem der letzten Hefte ihrer [Mitteilungen] zu berichten weiß 13. Seriöse Prognosen gehen davon aus, daß wenigstens 30 % der zukünftigen Arbeitsplätze mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern werden, die deutlich über den Schulstoff hinausgehen. Müßig zu betonen, daß unser derzeitiges Schulsystem keine Konzepte bereithält, einen solchen Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern eines Jahrgangs für mathematische Denk- und Arbeitsweisen zu sensibilisieren oder gar zu begeistern.

Die zunehmende Bedeutung mathematischer Fertigkeiten für eine hochtechnologisierte Gesellschaft schlägt sich auch im Schulcurriculum der Mathematik nieder, das heute nicht nur einfache Rechenfertigkeiten trainiert, sondern auch kompliziertere symbolische Kalküle wie Variablenrechnen, Termumformungen, Proportionalitäten, Kombinatorik, Anfänge der Statistik und vieles mehr vermittelt. Betrachtet man die Dynamik dieser Inhalte über das 20. Jahrhundert hinweg, so wird deren unmittelbare Kopplung an die zunehmende Komplexität technologischer Innovationen deutlich. Es mutet aus dieser Perspektive geradezu aberwitzig an zu prognostizieren, daß der Einzelne im Computerzeitalter mit weniger mathematischer Kultur auskommen könne, weil sich ein Teil dieser "Skills" auf den Computer verlagern ließe. Das mag auf Kalküle zutreffen, nicht aber auf Begriffszusammenhänge, ohne deren Kenntnis weder Methoden- noch Interpretationskompetenz denkbar sind und Kalküle letztlich formal und nutzlos bleiben oder durch die Faszination von Zahlen und Formeln Anwender in falsch verstandener Sicherheit wiegen, die schnell gefährlich werden kann.

Jedoch ist nicht nur der Einzelne auf solche Kenntnisse angewiesen, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes. Denn erst eine solche "Kultur des Denkens" sichert die Fähigkeit, innerhalb der Gesellschaft auf einem Niveau zu kommunizieren, wie es für die Beherrschung der sozialen Prozesse notwendig ist, die sich aus der immer komplexeren technologischen Basis ergeben. Auch unter diesem Blickwinkel mag es nicht weiter verwundern, daß der Teil des durch die Mathematik entwickelten methodischen und begrifflichen Rüstzeugs, der inzwischen in die Allgemeinbildung Einzug gehalten hat, stetig wächst. Obwohl es immer wieder Diskussionen über die Angemessenheit solcher Elemente im Schulunterricht gibt, zeigt sich im Lichte der TIMS-Studien der letzten Jahre 14, die die mathematischen Fertigkeiten von Schülern in verschiedenen Ländern vergleicht, daß die allgemeine mathematische Kultur, die die Schule in Deutschland derzeit vermittelt, eher als mittelmäßig einzustufen ist.

Mit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit leistungsfähiger Rechentechnik wird diese "Verwissenschaftlichung" gesellschaftlicher Zusammenhänge auf eine qualitativ neue Stufe gehoben. Viele, auch umfangreichere Kalküle können nun mechanisiert oder sogar automatisiert werden und stehen damit für einen breiteren Einsatz zur Verfügung, womit sich zugleich die Reichweite wissenschaftlicher Gedankenführung für einen weiten Kreis von Anwendungen deutlich erhöht. Neben Pflege, Weiterentwicklung und Vermittlung entsprechender Denk-Kalküle, dem traditionellen Gegenstand mathematischer Bildung, tritt damit eine weitere Querschnittswissenschaft ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Diese heißt Informatik und hat die Erstellung und Pflege, die konkrete und konzeptionelle Weiterentwicklung dieser technikbasierten Hilfsmittel geistiger Arbeit sowie methodische, praktische, ergonomische, physiologische, psychologische und soziale Aspekte des Einsatzes und der gesellschaftlichen Einbettung dieser Instrumente, kurz, eine sich neu herausbildende "technologische Seite des Denkens" 15, zum Gegenstand. Auch wenn das Selbstverständnis der Informatik gewöhnlich enger ausfällt 16, so ist es doch gerade eine solche Einordnung, die die Informatik als Querschnittswissenschaft charakterisiert und aus der sich auch die Rechtfertigung eines eigenständigen Schulfaches "Informatik" ableitet.

Ein solches Verständnis von Informatik läßt auch Raum für eine weitergehende Symbiose von Kalkül und Technologie als Gegenstand eines Faches zwischen Mathematik und Informatik, dem Grabmeier in 17 den provisorischen Namen "Computermathematik" gegeben hat. Das symbolische Rechnen ist ein wesentlicher Teil dieses Gebiets.

Symbolisches Rechnen und der Computer als Universalmaschine

Die Entwicklung der Mathematik als Ganzes ebenso wie ihre curriculare Vermittlung in der Schule beginnt mit dem Zahlbegriff als Abstraktion und führt vom einfachen Kalkül der Arithmetik über den Einsatz von Variablen, mit deren Hilfe man über den Arithmetikkalkül räsonieren kann, viele Windungen der Abstraktionsspirale hinauf zu komplizierten und kompliziertesten symbolischen Kalkülen.

Interessanterweise wiederholt sich diese Entwicklung auch in der Geschichte des Einsatzes des Computers als Hilfsmittel geistiger Arbeit. Historisch wurde das Wort Computer bekanntlich zuerst mit einer Maschine zur schnellen Ausführung numerischer Rechnungen verbunden. Nachdem dies in der Anfangszeit ebenfalls auf einfache arithmetische Operationen beschränkt war (und für Taschenrechner lange so beschränkt blieb), können auf entsprechend leistungsfähigen Maschinen heute auch kompliziertere Anwendungen wie das Berechnen numerischer Werte mathematischer Funktionen, die Approximation von Nullstellen gegebener Polynome oder von Eigenwerten gegebener Matrizen realisiert werden. Solche numerischen Verfahren spielen (derzeit) die zentrale Rolle in Anwendungen mathematischer Methoden auf Probleme aus Naturwissenschaft und Technik und bilden den Kern einer eigenen mathematischen Disziplin, des Wissenschaftlichen Rechnens. 18

All diesen Anwendungen ist gemein, daß sie zwar unter Verwendung ausgefeilter Programmiersprachen die Programmierfähigkeit eines Computers ausnutzen, sich letztlich aber allein auf das Rechnen mit (Computer)zahlen zurückführen lassen. Der Computer erscheint in ihnen stets als außerordentlich präzise und schnelle, im übrigen aber stupide Rechenmaschine, als "number cruncher".

Genau so kommt der Computer auch in vielen großen numerischen Simulationen praktischer Prozesse zum Einsatz, so daß ein Bild seiner Fähigkeiten entsteht, das sowohl aus innermathematischen als auch informatik-theoretischen Überlegungen heraus eher einer künstlichen Beschränkung seiner Einsatzmöglichkeiten gleichkommt. Zeigt uns doch die Berechenbarkeitstheorie in Gestalt der Churchschen These, daß der Computer eine Universalmaschine ist, die prinzipiell in die Lage versetzt werden kann, jede nur denkbare algorithmische Tätigkeit auszuüben, wenn sie nur mit einem geeigneten Programm versehen ist. Er sollte also auch in der Lage sein, Symbole und nicht nur Zahlen nach wohlbestimmten Regeln zu verarbeiten.

Daß ein Computer auch zu einer solchen Symbolverarbeitung fähig ist, war übrigens lange vor dem Bau des ersten "echten" (von-Neumann-)Rechners bekannt. Bereits Charles Babbage (1792 - 1838), der mit seiner "Analytical Engine" 1838 ein dem heutigen Computer ähnliches Konzept entwickelte, ohne es aber realisieren zu können, hatte diese Fähigkeiten einer solchen Maschine im Blick. 19

Ein solches Computerverständnis ist uns, im Gegensatz zu den Pionieren des Computer-Zeitalters, im Lichte von ASCII-Code und Textverarbeitungssystemen heute allgemein geläufig, wenigstens was den Computer als intelligente Schreibmaschine betrifft. Mit dem Siegeszug der Kleinrechentechnik in den letzten 30 Jahren entwickelte er sich dabei vom Spielzeug und der erweiterten Schreibmaschine hin zu einem unentbehrlichen Werkzeug der Büroorganisation, wobei vor allem seine Fähigkeit, (geschriebene) Information speichern, umordnen und verändern zu können, eine zentrale Rolle spielt. In diesem Anwendungssektor kommt also die Fähigkeit des Computers, symbolische Information verarbeiten zu können, bereits unmittelbar auch für den Umgang mit Daten zum Einsatz. Dabei verwischt sich durch die binäre Kodierung symbolischer Information die Grenze zwischen Zahlen und Zeichen, die zuerst so absolut schien.

Auf dieser Abstraktionsebene ist es auch möglich, die verschiedensten Nachschlagewerke und Formelsammlungen, also in symbolischer Form kodiertes Wissen, mit dem Computer aufzubereiten, in datenbankähnlichen Strukturen vorzuhalten und mit entsprechenden Textanalyseinstrumenten zu erschließen. Es wird sogar möglich, auf verschiedene Weise symbolisch kodierte Informationen in multimedialen Produkten zu verknüpfen, was das ungeheure innovative Potential dieser Entwicklungen verdeutlicht. In der Hand des Ingenieurs und Wissenschaftlers entwickelt sich damit der Computer zu einem sehr effektiven Instrument, das nicht nur den Rechenschieber, sondern auch zunehmend Formelsammlungen abzulösen in der Lage ist. Auf diesem Niveau handelt es sich allerdings noch immer um eine syntaktische Verarbeitung von Information, wo der Computer deren Sinn noch nicht in die Verarbeitung einzubeziehen vermag.

Kehren wir zum Einsatz des Computers zu numerischen Zwecken zurück. Obwohl nicht so deutlich sichtbar, kommt hierbei bereits eine wichtige symbolische Komponente zum Tragen: Der Computer benötigt ein Programm für die Rechnungen, das er in adäquater Form in seinen Speicher zu bringen und von dort wieder zu extrahieren hat. Diese Art symbolischer Information ist bereits semantischer Art, da die auf diese Weise dargestellten Algorithmen inhaltliche Aspekte der verarbeiteten Zahlengrößen erschließen. Daß dies vom Nutzer nicht in gebührender Form wahrgenommen wird, hängt in erster Linie mit der strikten Trennung von (numerischen) Daten und (symbolischem) Programm sowie der Betrachtung des Computers als virtuelle Maschine ("Das Programm macht der Programmierer, die Rechnung der Computer") zusammen.

Bringt man beide Ebenen, die Daten und die Programme, zusammen, ermöglicht also algorithmische Operationen auch auf symbolischen Daten, geht man einen großen Schritt in die Richtung, semantische Aspekte auch symbolischer Information einer automatischen Verarbeitung zu erschließen. Denken lernt der Computer damit allerdings nicht, denn auch die Algorithmik symbolischer Informationsverarbeitung benötigt zunächst den in menschlicher Vorleistung erdachten Kalkül, den der Computer dann in der Regel schneller und präziser als der Mensch auszuführen vermag.

In diesem Schnittpunkt moderner Entwicklungen befindet sich die Computeralgebra. Mit ihrem ausgeprägten Werkzeugcharakter und einer starken Anwendungsbezogenheit steht sie paradigmatisch dem klassischen Gegenstand des Wissenschaftlichen Rechnen nahe und wurde lange Zeit nur als Anhängsel dieser sich aus der Numerik heraus etablierten mathematischen Disziplin verstanden. Ihre Potenzen sind aber vielfältiger. Zunächst steht sie in einer Reihe mit anderen nichtnumerischen Applikationen einer "Mathematik mit dem Computer" wie z.B. Anwendungen der diskreten Mathematik (Kombinatorik, Graphentheorie) oder der diskreten Optimierung, die endliche Strukturen (Graphen, Bäume, Listen, Felder) untersuchen, die sich exakt im Computer reproduzieren lassen.

Die strukturelle Endlichkeit ihrer Konstrukte prädestinierte die diskrete Mathematik, eine Vorreiterrolle bei der Computerisierung der "exakten" Mathematik zu spielen; und sie tat dies auch spätestens mit dem spektakulären Beweis des Vier-Farben-Satzes durch Appel und Haken im Jahre 1976. Damit zog zugleich neben dem bis dahin dominierenden numerischen ein deduktives Mathematikverständnis in den Computerbereich ein, das den Ansprüchen wissenschaftlicher Rationalität wesentlich näher steht.

Mathematische Konstrukte sind allerdings in der Regel nicht strukturell, sondern nur beschreibungs-endlich, so daß in allgemeineren Situationen noch einmal eine Reduktionsleistung vollbracht werden muß. Diese ergibt sich in vielen Fällen auf natürliche Weise aus der Art, wie Theorien und vor allem deren Kalküle inner-mathematisch formuliert werden. Diese Formulierungen müssen "nur noch" in computeradäquate Strukturen umgesetzt werden. Hier hat die Computeralgebra eines ihrer großen bzw., nach Buchberger ([RP]), sogar ihr entscheidendes Aufgabenfeld.

Neben konkreten Implementierungen wichtiger mathematischer Kalküle und Verfahren reicht die Bedeutung der Computeralgebra aber über den Bereich der algorithmischen Mathematik hinaus. Die Vielzahl mathematischer Verfahren, die in einem modernen Computeralgebra-System wie Mathematica, Maple oder MuPAD unter einer einheitlichen Oberfläche verfügbar sind, konstituieren ein leistungsfähiges metamathematisches Werkzeug für Anwender, ähnlich den Numerikbibliotheken, die heute schon im Wissenschaftlichen Rechnen eine zentrale Rolle spielen.

Die Symbiose dieser Entwicklungen der algorithmischen Mathematik mit informatischen Entwicklungen wie etwa guten Graphik-, Notebook- und Hypertextsystemen zu integrierten Entwicklungsumgebungen, einem persönlichen digitalen Assistenten, ist im Bereich der Computeralgebra bereits deutlich ausgeprägt. Sie wird dazu führen, daß sich die heute noch getrennt agierenden Bereiche "Symbolik" und "Numerik" zu der bereits erwähnten "Computermathematik" vereinen werden, in der computergestützte numerische, diskrete und symbolische Methoden gleichberechtigt nebeneinander stehen und in praktischen Applikationen ineinander greifen. Wie die Mathematik als lingua franca das Denken in weiten Bereichen der Natur- und Ingenieurwissenschaften prägt, so wird diese Computermathematik das Herzstück computergestützter fachwissenschaftlicher "Denkwerkzeuge" sein und das zentrale Element der bereits erwähnten "Technologie des Denkens" bilden. Das Verständnis für computer-mathematische Denkweisen wird damit auch in Bereichen eine Rolle spielen, die sich heute noch weit entfernt von Mathematik und Informatik wähnen. Die Bedeutung dieser Denkweisen für eine mathematische Kultur der Gesellschaft ist deshalb kaum zu unterschätzen.

In diesem Spannungsfeld zwischen Mathematik und Informatik findet die Computeralgebra zunehmend ihren eigenen Platz und nimmt dabei wichtige Entwicklungsimpulse aus beiden Gebieten auf. So mag es nicht verwundern, daß die großen Durchbrüche der letzten Jahre sowohl in der Mathematik als auch in der Informatik die von der Computeralgebra produzierten Werkzeuge wesentlich beeinflußt haben und umgekehrt. Mit der Computerisierung mathematischer Verfahren erweitert sich zugleich der Kognitionsbereich "durchschnittlicher" Mathematiker, so daß mathematische Ergebnisse, die noch vor einigen Jahrzehnten intellektuelle Vorposten darstellten, zum Allgemeingut werden. 20

Die Computeralgebra ist damit nicht eine weitere Computeranwendung schlechthin unter vielen anderen, sondern setzt in natürlicher Weise Entwicklungen fort, die die Informatik als Ganzes hervorgebracht haben: Der Computereinsatz für symbolische Rechnungen eröffnet einen neuen Abschnitt auf dem Weg des Computers vom primitiven Bitknipser zu einem Universalwerkzeug für geistige Arbeit. Es beginnt damit eine neue Etappe auf dem Weg der praktischen Realisierung des theoretischen Anspruchs, den die Churchsche These impliziert. 21

Wie wird es weiter gehen?

Die von der Computeralgebra produzierten Werkzeuge spielen bereits heute eine stark zunehmende Rolle in den Natur- und auch in den Ingenieurwissenschaften. Dies dokumentiert sowohl die wachsende Zahl von Anwenderpaketen der verschiedenen großen Systeme als auch eine beeindruckende Zahl von Büchern zu dieser Thematik. Für einen vollständigeren Überblick über Tendenzen und Anwendungen der Computeralgebra sei auf 22 verwiesen.

Den Einfluß dieser neuen Arbeitsmittel auf den Umbruch unserer technisierten Arbeitswelt insbesondere im ingenieurtechnischen Bereich kann man kaum überschätzen. Dort, wo heute noch dicke Formelsammlungen und Tafelwerke das Berufsbild prägen, die trotz ihrer Dicke genau wie ein Berg numerischer Daten immer nur eine sehr beschränkte Sicht auf Fakten und keine Einsichten vermitteln können, werden Werkzeuge, die auf symbolischen Fähigkeiten im beschriebenen Sinne aufsetzen, diese Bereiche geistiger Arbeit in vielleicht noch nachhaltigerer Weise revolutionieren als dies mit der Erfindung des Buchdrucks geschah.

Schließlich eröffnen die damit verbundenen Möglichkeiten, nun auch algorithmisches Know How in großem Umfang zu vergegenständlichen, vollkommen neue Dimensionen der Wissensrepräsentation.

Johannes Grabmeier beschreibt die Perspektiven eines solchen Übergangs von einer fakten- zu einer stärker algorithmenorientierten Wissensrepräsentation wie folgt 17:

Viele Probleme aus der Ingenieurwelt, den Naturwissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften sind heute ohne massiven Einsatz von Computern nicht lösbar. Die dahinterliegenden Probleme werden mit den Methoden des Wissenschaftlichen Rechnens angegangen. Dabei werden mehr und mehr die traditionellen numerischen Rechnungen durch symbolisches Rechnen mit dem Computer ersetzt bzw. ergänzt...

Der Siegeszug der Computeralgebra in den letzten Jahren ist eng gekoppelt mit der stürmischen Entwicklung von immer neuen Rechnergenerationen, die es erst möglich gemacht hat, die besonders rechen- und speicherintensiven Programme und Systeme zum symbolischen Rechnen zu realisieren.

Aber der Aufwand lohnt sich: Wenn man statt einer Zahl eine parameterabhängige Formel als Ergebnis erzielt, hat man nicht nur ein Problem gelöst, sondern eine Klasse von möglicherweise unendlich vielen Problemen erledigt. Dadurch wird ein Qualitätssprung möglich, denn die Formel erlaubt es nun z.B., die Parameter zu optimieren oder schnell auf Veränderungen zu reagieren. ...

Wie heute ein Taschenrechner zum Alltag gehört, wird künftig jeder Ingenieur und jeder, zu dessen Aufgaben das Lösen, Erlernen oder Lehren mathematischer Probleme gehört, Zugriff auf ein Computeralgebra-System haben. Die verschiedenen schon heute verfügbaren Komponenten für numerisches und symbolisches Rechnen, für Statistik und andere mathematische Gebiete, für Graphik und Animation, Textverarbeitung und Dokumentation mit Hypertext-Systemen und vieles mehr sehe ich in nicht allzu ferner Zukunft über entsprechende Schnittstellen zu individuell kombinierbaren Computermathematik-Systemen für das Wissenschaftliche Rechnen zusammenwachsen. Die Computeralgebra leistet damit einen wesenlichen Beitrag für eine der Schlüsseltechnologien unserer technikbestimmten Gesellschaft.

Auf diesem Wege entstehen bequeme Werkzeuge für die eigene geistige Arbeit, die lokal auf dem Schreibtisch des Wissenschaftlers oder Ingenieurs einen immer größeren Teil des globalen Know Hows verschiedener Fachrichtungen in einer auch algorithmisch leicht zugänglichen Form bereithalten. Eine nochmalige Steigerung der Wirkung dieser Instrumente ergibt sich, wenn sie mit Internet und anderen Kommunikationstechnologien zusammengeführt werden. Versammeln sie heute die globale Power allgemeiner Problemlösekompetenz in einem Computer lokal auf dem Tisch des Anwenders, so ermöglicht es ein solches Netz, die spezielle Problemlösekompetenz einzelner Wissenschaftler in globalem Maßstab unmittelbar zu konsultieren; ein Ansatz, der weit über die traditionellen Formen wissenschaftlicher Kommunikation hinausreicht. Die Anforderungen an eine "durchschnittliche mathematische Kultur" als kontextuale Voraussetzung solcher Kommunikationsformen werden entsprechend mitwachsen.

Curriculare Konsequenzen

Die curricularen Konsequenzen aus diesen Entwicklungen werden ähnlich tiefgreifend sein müssen wie die Entwicklungen selbst, wenn die schulische und studentische Ausbildung mit den neuen Anforderungen Schritt halten will.

Konsequenzen für den Einsatz von Computeralgebra (in der oben thematisierten technologischen Dimension) sind dabei einzubetten in Konsequenzen, die sich generell aus der zu erwartenden Allgegenwart des Computers ergeben. Eine elementare Prämisse stellt die Verankerung einer informatischen Allgemeinbildung im Schul-Curriculum dar, um die derzeit nicht nur in Sachsen erbitterte Grabenkämpfe zwischen der Ministerialbürokratie und dem Rest der Welt geführt werden. Statt provisorischer Augenblickslösungen, die sich an großzügige und nur auf den ersten Blick uneigennützige Angebote großer Firmen aus dem Computer- oder Telekommunikationsbereich wie an einen Strohhalm klammern, sind dabei langfristig materiell, personell und auch didaktisch abgesicherte Konzepte gefragt. Gute "offizielle" Überlegungen in dieser Richtung sind Mangelware. Eine Gruppe interessierter (und betroffener) Informatiklehrer aus Sachsen 23 hat ein solches Konzept entwickelt, das propädeutische Elemente in der Grundstufe, eine systematische Einführung in allgemeinbildende Aspekte der Informatik in der Sek I und ausgewählte weiterführende Anwendungsaspekte in der Sek II vorsieht. Auch die Vorstellungen des GI-Fachausschusses "Informatische Bildung an Schulen" 5 weisen in eine solche Richtung.

Auf einer derartigen Ausbildung kann die Unterweisung des naturwissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Nachwuchses im Einsatz speziellerer computermathematischer Werkzeuge aufsetzen, wobei wie beim Taschenrechner-Einsatz die drei Etappen

1.
propädeutische Sensibilisierung
2.
fachwissenschaftlicher Einsatz
3.
systematisierende Einführung
zu durchlaufen sind. Die propädeutische Sensibilisierung kann durch den Einsatz von Computeralgebrasystemen im Unterricht der Sek II erreicht werden (derzeit ebenfalls stark in der Diskussion 24), so daß wir in absehbarer Zeit auf Studienanfänger hoffen können, denen der Gebrauch dieser Denkwerkzeuge nicht mehr fremd ist.

Die durchgängige Verwendung in der fachwissenschaftlichen Ausbildung ist der Platz, an dem die genannte Zielgruppe weitere eigene Erfahrungen im Einsatz computeralgebraisch basierter Werkzeuge sammeln kann. Auf die unbestreitbaren didaktischen Potenzen, diesen Studenten in dem Zusammenhang auch die Mathematik etwas näher zu bringen, will ich hier nicht eingehen.

Leider sind auch diese Überlegungen zunächst Visionen, die zunehmend zu scheitern drohen, wenn politisch Verantwortliche (wenn ein solcher Terminus hier überhaupt noch zu rechtfertigen ist) meinen, mit eisernem Sparwillen die öffentlichen Kassen auf Kosten und zu Lasten der Bildung zukünftiger Generationen sanieren zu können.

Fußnoten

Dr. rer. nat. habil. Hans-Gert Gräbe - Jg. 1955.
Studium der Mathematik, danach Arbeiten zur Algebra, Geometrie und Computeralgebra, seit 1990 wiss. Mitarbeiter am Institut für Informatik der Universität Leipzig.
Weitere Texte zum Thema "Informationsgesellschaft" siehe www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

(1)
Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, Bericht der Bundesregierung, Referat Öffentlichkeitsarbeit des BMWi, Bonn Februar 1996.

(2)
Report "Die Informationsgesellschaft", Referat Öffentlichkeitsarbeit des BMWi, Bonn November 1995, S. 2.

(3)
Jörg Menno Harms: Computertechnik, Telekommunikation, Unterhaltungselektronik und Medien wachsen zusammen, in: ebenda, S. 4

(4)
Rainer Busch: Lernen aus dem Netz, in: c't, Heft 6, 1997, S. 280 - 283.

(5)
Vgl. etwa die Stellungnahme zum "Import von Informatikfachkräften", April 2000, sowie die "Empfehlungen für ein Gesamtkonzept zur informatischen Bildung an allgemeinbildenden Schulen", September 2000, des Fachausschusses 7.3 "Informatische Bildung an Schulen" der Gesellschaft für Informatik (GI). Siehe http://didaktik.cs.uni-potsdam.de/HyFISCH/Produzieren/GI-FA73/fapub.html

(6)
Eine europäische Informationsgesellschaft für alle. Erste Überlegungen der Gruppe hochrangiger Experten unter Vorsitz von Prof. Luc Soete. Zwischenbericht an die europäische Kommission vom Januar 1996. Veröffentlicht vom Büro der europäischen Kommission, Brüssel 1996.

(7)
Dieser Terminus beruht auf der (gut fundierten) Churchschen These, die behauptet, daß jede formal algorithmisierbare Tätigkeit durch einen Computer verrichtet werden kann, wenn dieser nur über entsprechende Schnittstellen verfügt.

(8)
"Wie mit den Naturkräften verhält es sich mit der Wissenschaft. Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreis eines elektrischen Stroms oder über Erzeugung von Magnetismus im Eisen, um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut." (MEW 23, S. 407) Und weiter in der Fußnote: "Die Wissenschaft kostet den Kapitalisten überhaupt 'nichts', was ihn durchaus nicht daran hindert, sie zu exploitieren. Die 'fremde' Wissenschaft wird dem Kapital einverleibt wie 'fremde' Arbeit. 'Kapitalistische' Aneignung und 'persönliche' Aneignung, sei es von Wissenschaft, sei es von materiellem Reichtum, sind aber ganz und gar disparate Dinge."

(9)
Brockhaus Enzyklopädie in 26 Bänden, Mannheim 1994.

(10)
"Wissenschaft ..., der Inbegriff menschl. Wissens einer Epoche, das systematisch gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird. ... Methodisch kennzeichnet die W. ein gesichertes, in einen Begründungszusammenhang von Sätzen gestelltes und damit intersubjektiv kommunizierbares und nachprüfbares Wissen, das bestimmten wiss. Kriterien (z.B. Allgemeingültigkeit, Systematisierbarkeit) folgt." (ebenda)

"Wissen wurde bis zum Ausgang des Mittelalters als Wissen vom wesentlichen Sein eines Phänomens, eines Gegenstandes oder Prozesses, verstanden. Erkenntnisleitende Interessen der W. bezogen sich auf das 'Was?' und das 'Wozu?' des Phänomens, also auf seine ontologische und zweckgerichtete (teleolog.) Dimension. Der neuzeitliche W.-Begriff zielt im Ggs. hierzu auf die Fragen des 'Wie?' und 'Wodurch?', also auf die funktionale und kausale Erklärung der Phänomene." (ebenda)

"Kennzeichnend für die Naturwissenschaften sind Boebachtung, Hypothesenbildung, Experiment und Theoriebildung. Im Unterschied hierzu bezieht sich die geisteswissenschaftl. Methode (Hermeneutik) auf die niemals gänzlich zu erschöpfende und in der Beobachtung einholbare Deutung individueller Phänomene, auf Bedeutungszuweisung und Sinnverstehen im Rahmen historisch-kultureller Zusammenhänge." (ebenda)

(11)
Bruno Buchberger spricht in diesem Zusammenhang von der "Trivialisierung" einer Problemklasse (der symbolischen Mathematik), siehe [RP]: Bruno Buchberger: Symbolisches Rechnen, in: Peter Rechenberg, Gustav Pomberger (ed.), Informatik-Handbuch, Hanser, München 1997, S. 799 - 817.

(12)
Friedhart Klix, Karl Lanius: Wege und Irrwege der Menschenartigen. Wie wir wurden, wer wir sind. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1999, S. 199.

(13)
Erwin Single: Ohne Brüche, in: DMV-Mitteilungen, Heft 2, 2000, S. 27 - 31. Abdruck aus "Abi Berufswahl-Magazin" 1/2000, Transmedia Projekt + Verlagsgesellschaft Mannheim.

(14)
Vgl. http://timss.bc.edu sowie die "Stellungnahme der DMV im Rahmen der Anhörung zu TIMSS bei der Kultusministerkonferenz am 26./27.6.1997 in Bonn", http://www.mathematik.uni-bielefeld.de/DMV/archiv/memoranda/TIMSS.html

(15)
Bruno Buchberger: Computer-Algebra: Das Ende der Mathematik?, in: DMV-Mitteilungen, Heft 2, 2000, S. 16 - 26.

(16)
Gängige Definitionen des Gegenstands der Informatik fokussieren stärker auf eine einzelwissenschaftliche Betrachtung, etwa als "Wissenschaft von der systematischen Verarbeitung von Informationen, besonders der automatischen Verarbeitung mit Digitalrechnern." ([DI]: Hermann Engesser (ed.): Duden Informatik, Dudenverlag, Mannheim 1993)

(17)
Johannes Grabmeier: Computeralgebra - eine Säule des Wissenschaftlichen Rechnens, in: it + ti, Heft 6, 1995, S. 5 - 20.

(18)
Allerdings definiert sich Wissenschaftliches Rechnen normalerweise nicht über die verwendeten Kalküle, sondern in Abgrenzung zur "reinen Mathematik" über das zu Grunde liegende (und weiter oben bereits beschriebene) Anwendungsparadigma.

(19)
Von Babbages Assistentin, Freundin und Mäzenin, Lady Ada Augusta Lovelace, ist folgendes Zitat überliefert (nach Donald E. Knuth: The art of computer programming, Addison Wesley 1991, S. 1)
Viele Menschen, die nicht mit entsprechenden mathematischen Studien vertraut sind, glauben, daß mit dem Ziel von Babbage's Analytical Engine, Ergebnisse in Zahlennotation auszugeben, auch deren Inneres arithmetisch-numerischer Natur sein müsse statt algebraisch-analytischer. Das ist ein Irrtum. Die Maschine kann ihre numerischen Eingaben genau so anordnen und kombinieren, als wären es Buchstaben oder andere allgemeine Symbole; und könnte sie sogar in einer solchen Form ausgeben, wenn nur entsprechende Vorkehrungen getroffen würden.

(20)
Zu den kuriosen Beispielen, die in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt werden, gehören die Mondbahnberechnungen des französischen Astronoms Charles Delaunay, für die er im 19. Jahrhundert 20 Jahre seines Lebens opferte und die mit modernen Computern in wenigen Stunden nachvollziehbar sind. Die mathematische Glaubwürdigkeit des Computerergebnisses ist zudem unvergleichlich höher, wie in der anerkennenden Feststellung zum Ausdruck kommt, daß sich Delaunay nur an drei Stellen in Termen untergeordneter Bedeutung verrechnet habe (und nicht umgekehrt der Computer). Vgl. Richard Pavelle, Marcus Rothstein, John P. Fitch: Computer Algebra, in: Scientific American, 245, 1981, S. 102 - 113.

(21)
Ein pikantes Detail liegt in der Ignoranz dieser Entwicklungen durch Teile der etablierten Informatik selbst, denn Darlegungen zur Computeralgebra sucht man in verschiedenen Quellen, die sich eine umfassende Darstellung der Informatik vorgenommen haben, vergebens. So enthalten weder der "Duden Informatik" [DI] noch das "Lexikon Informatik" (Schneider: Lexikon Informatik, Verlag Oldenbourg, München 1997, 4. Auflage) ein Stichwort 'Symbolisches Rechnen' oder 'Computeralgebra'. Aber auch hier scheinen sich Gewichte zu verschieben, wie ein Blick in das neue "Handbuch Informatik" [RP] belegt, in dem ein ganzer Abschnitt dem symbolischen Rechnen gewidmet ist.

(22)
Johannes Grabmeier, Volker Weispfenning (ed.): Computeralgebra in Deutschland - Bestandsaufnahme, Möglichkeiten, Perspektiven, Fachgruppe Computeralgebra der GI, DMV, GAMM, Passau und Heidelberg 1993.
Eine überarbeitete und wesentlich erweiterte Auflage erscheint im Jahr 2000 im Springer-Verlag.

(23)
Siehe http://marvin.sn.schule.de/~gi.

(24)
Siehe etwa http://www.uni-muenster.de/ZKL-t3.