Erschienen in
"Information in Natur und Gesellschaft",
Texte zur Philosophie Heft 8,
Rosa-Luxemburg-Siftung Sachsen, 2000,
S. 75 - 84.


Zur Zukunft der Arbeit

von Hans-Gert Gräbe, Leipzig, Juni 2000

Das Wachstum der Zukunft wird ein Wachstum durch Wissen sein, heißt es im BDWi-Report "Die Informationsgesellschaft"1 von 1995. Prof. Frühwald (DFG) ergänzt (ebenda): Die Explosion neuer Erkenntnisse führt dazu, dass in den kommenden zehn Jahren doppelt so viel geforscht wird wie in den 2500 Jahren seit Aristoteles bisher.

Diese Visionen haben ihre Wurzeln in technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die in der aktuellen politischen Diskussion gern als "Übergang zur Informationsgesellschaft" thematisiert werden. Schlagworte wie "Datenautobahn", "E-Commerce", "Telearbeit" oder "Telelearning" prägen die Debatte in den Medien und suggerieren den unmittelbar bevor stehenden Anbruch eines goldenen Zeitalters. Der Bericht2 hochrangiger Experten an die EU-Kommission stellt dazu nüchterner (unter anderem) fest:

In den neunziger Jahren kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Berichte und Veröffentlichungen über Kommunikations- und Informationstechnologien (IKT) ... Diese kräftig wachsende Literatur befasst sich vorwiegend mit dem Aufkommen der "Datenautobahn" und der Frage, wie stets größere Informationsmengen noch schneller, leistungsfähiger und billiger an immer mehr Haushalte und Unternehmen in der ganzen Welt geliefert werden können.
... Man muss damit aufhören, die Übertragung von Daten mit der Kommunikation zwischen Personen und dem Erwerb von Wissen gleichzusetzen.
... Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Informationsgesellschaft als eine "lernende Gesellschaft" zu betrachten ist. ... Indem nicht die Informationsgesellschaft an sich, sondern die Lerngesellschaft in den Mittelpunkt gerückt wird, eröffnet sich zudem für die Debatte um die Informationsgesellschaft ein potenziell bedeutend positiverer Weg des Fortschritts. ... Es geht um die Fähigkeit, Information zu nutzen und in Wissen umzuwandeln.

Die Reichweite der bisher unternommenen Schritte zur praktischen Umsetzung dieser Ansprüche und Voraussetzungen steht allerdings in krassem Kontrast zu den großen Worten aus der offiziellen Politik über die Bedeutung dieser Thematik. So definiert etwa der Bericht "Info 2000"3 der (alten) Bundesregierung Ziele und verschiedene Handlungsfelder für "Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft", bleibt aber sehr vage, wenn es um die finanziellen Mittel geht, mit denen diese Ziele umgesetzt werden sollen und die für die einzelnen Handlungsfelder zur Verfügung stehen. Selbst etwas erfolgreichere Kampagnen wie "Schulen ans Netz" müssen sich auf die Finanzkraft großer Konzerne aus der Telekommunikations- und Computerbranche verlassen, die diese medienwirksam und nur vordergründig uneigennützig auf Sachinvestitionen konzentrieren. Konzepte oder gar personelle Ressourcen bleiben Mangelware, wie einer der Gründerväter der SaN-Initiative, Prof. Rainer Busch, konstatiert 4.

Statt dessen wird mit immer knapperen öffentlichen Kassen begründet, dass sich Universitäten und Hochschulen, die bereits seit Jahren unter Überlast und auf Verschleiß gefahren werden, auf weitere Kürzungen einrichten müssen. Extreme Klassenteiler und hohe Lehrdeputate zehren unsere Schulen immer mehr aus. Schulschließungen auf dem Lande unter kurzsichtigen "Rentabilitäts"-Gesichtspunkten führen zu Schulbusfahrten von über einer Stunde und zu einer "Schülerarbeitswoche" von deutlich mehr als 50 Stunden. Die Freiräume für ergänzende Bildungsangebote, um die Fähigkeiten dieser Kinder individuell einigermaßen optimal zu entwickeln, tendieren damit gegen Null, von den finanziellen Bedingungen, unter denen diese Formen der Talenteförderung heute arbeiten, ganz zu schweigen. Internationale Vergleiche wie die TIMS-Studien5 zeigen, dass das Bildungsniveau deutscher Schüler inzwischen höchstens noch Mittelmaß darstellt. Initiativen wie die Green-Card-Kampagne für Informatikfachkräfte weisen die Öffentlichkeit schlaglichtartig auf derartige Defizite hin, ohne dass politische Konsequenzen auch nur abzusehen wären. Die Krokodilstränen, die ein ehemaliger "Zukunftsminister" in diesem Zusammenhang vergoss, sind ein Reflex auf die zunehmende Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema, entbehren aber ebenfalls jeglicher konzeptioneller Fundierung.

Dabei wäre es notwendig, gerade in diesem Bereich kräftig zu investieren, um perspektivisch der Massenarbeitslosigkeit, der größten unmittelbaren Herausforderung, vor der die heutige Gesellschaft (wenigstens in Mitteleuropa) steht, zu begegnen. Derartige Versprechungen standen im Mittelpunkt des Wahlkampfs 1998 und waren der zentrale Punkt in der Forderung nach nicht nur einer neuen Regierung, sondern einer neuen Politik. Die Hoffnungen, dass die Schröder-Regierung in dieser Frage substanzielle Fortschritte zu erzielen vermag, wurden spätestens mit dem Rücktritt von 0skar Lafontaine endgültig begraben. Gescheitert am gegenwärtigen Kräfteverhältnis ist damit zugleich der strategische Ansatz, durch moderaten politischen Druck gesamtgesellschaftlichen Werten gegen einen entfesselten globalen Markt wieder mehr Gewicht zu verleihen und wenigstens zunächst die Staatsfinanzen zu sanieren.

Die bisher betrachteten Handlungsfelder von Politik - sowohl Bildungsfragen als auch die Schaffung der materiellen Grundlagen der Informationsgesellschaft - haben eines gemeinsam. Es handelt sich dabei stets um Arbeit, deren Früchte auch das Kapital verwerten möchte, welche es allein aus einem marktwirtschaftlichen Kalkül heraus aber nicht zu organisieren bereit ist, weil es sich um Dienste für die Allgemeinheit handelt, die nicht unmittelbar konkreten einzelnen Marktteilnehmern verkauft werden können. Ich möchte diese Formen von Arbeit im Weiteren als Infrastrukturarbeit bezeichnen. Auch wenn das Kapital nicht von sich aus bereit ist, diese zu organisieren, so benötigt es doch deren Früchte für die profitbringende produktive Arbeit, an der allein es unmittelbares Interesse hat.

Die Trennlinie zwischen beiden Arbeitsformen bleibt, so verkürzt, natürlich unscharf, was mir die Leserin oder der Leser nachsehen möge. Aber selbst wenn einzelne Teile einer solchen Infrastruktur, wie Bahn oder Telekommunikation, heute privatisiert werden, oder, wie die großen Stromkonzerne, es seit langem sind, werden Profite erzielt, jedoch kaum Marktgesetze in ihrer klassischen Form in Gang gesetzt. Aus demselben Grund betrachte ich den Versuch, durch Privatisierung einen Telekommunikations"markt" zu schaffen, mit großer Skepsis. Die derzeit fallenden Preise sind vor allem auf einen ruinösen Kampf um Marktanteile zurück zu führen, wo heutige Profite aus anderen Bereichen der Wirtschaft eingesetzt werden, um die (erhofften) Superprofite von morgen in diesem Sektor zu sichern. Nur die ganz großen Unternehmen haben eine reale Chance, in diesem Wettbewerb zu bestehen. Die Folgen eines Oligopols in einem Infrastrukturbereich, dessen Verhalten sich vorwiegend aus den eigenen Profiterwartungen motiviert, kann im Pharmabereich studiert werden. Sie sind Teil der derzeitigen Krise des Gesundheitssystems als Ganzes.

Im Weiteren möchte ich mich auf Arbeiten aus diesem Infrastruktursektor konzentrieren, die aus den verschiedensten Gründen nicht marktgängig sind und damit auch keine Werte im Sinne des Marxschen ökonomischen Modells schöpfen. Gleichwohl verbrauchen sie Ressourcen, die auf geeignete Weise zu allokieren sind. Wie oben dargelegt ist die Gesellschaft unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen offensichtlich nicht in der Lage, dies ausreichend sicher zu stellen. Tragfähige alternative politische Konzepte müssen zwei zentrale Fragen beantworten - die Frage nach dem notwendigen Umfang dieser Mittel und die Frage nach deren effizienter Verwendung. Schlüssige Antworten auf beide Fragen liegen nicht auf der Hand und noch viele innovative Gedanken müssen geboren werden, um verschiedene Formen von Infrastrukturarbeit fest im politischen Gefüge der Gesellschaft zu verankern. Mit dem Konzept eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors (ÖBS) geht linke Politik erste Schritte in dieser Richtung, ohne allerdings bisher deutlich zu machen, in welchem Verhältnis dieser neue Sektor zu den klassischen Infrastrukturbereichen Wissenschaft, Forschung und Bildung stehen soll. Die Jahrhunderte alten Traditionen dieser Bereiche, Zielvorstellungen, Strukturen und Mechanismen zu entwickeln, um mit knappen und immer knapper werdenden Mitteln umzugehen, sowie das Studium der Deformationen, die sie aus zu knappen Mittelzuweisungen erleiden, sind ein wichtiges Reservoir an Erfahrungen für die Gestaltung der politischen Einbettung von Infrastrukturbereichen insgesamt. Besonders eine genauere Betrachtung der Prinzipien der inneren Organisation von Wissenschaft sollte bei der Suche nach den richtigen Antworten auf die richtigen Fragen von Nutzen sein. Dieser Gedankengang, den ich an anderer Stelle (6) bereits ausführlicher entwickelt habe, soll im Folgenden jedoch außer Betracht bleiben.

Die Mittel für diesen Infrastrukturbereich werden heute zumeist über Steuern und Abgaben bereit gestellt, die von einer "öffentlichen Hand" eingetrieben und wieder ausgegeben werden. Die Frage nach dem notwendigen Umfang dieser Mittel ist zunächst recht einfach zu beantworten: Der gesamte gesellschaftliche Aufwand, der für Infrastruktur- und produktive Arbeit getrieben wird, ist ins Verhältnis zu setzen. Wenn einzig produktive Arbeit (anerkannte) Werte schafft, der Rest steuerfinanziert ist, muss der Rückfluss an Steuermitteln genau diesem Verhältnis entsprechen, wenn die Ökonomie im Großen im Lot bleiben soll. Eine einfache Antwort, die jedoch schwer umzusetzen ist, da sie unmittelbar an der Höhe der realisierbaren Profite angreift. Sie ist außerdem nur eine teilweise Antwort, insoweit sie die Frage nach dem Wert von Infrastrukturarbeit, also etwa der Arbeit eines Lehrers in der Schule, ausblendet.

Mit einer enormen Verschuldung der "öffentlichen Hand" hat man in den letzten Jahren versucht, Antworten hinauszuschieben und Probleme auf zukünftige Generationen abzuwälzen. Die auf diese Weise erschließbaren Ressourcen sind inzwischen aufgebraucht. Eine Fortsetzung des Lavieren in dieser Frage führt zu nachhaltigen Schäden in der Infrastruktur, wenn man meint, obiges Verhältnis beider Bereiche zueinander weiter ignorieren zu können. Die aktuellen politischen Diskussionen um Steuersenkungen und Spitzensteuersätze zeigen allerdings, dass die großen Konzerne ihren politischen und medialen Einfluss offensichtlich ausnutzen wollen, um die Probleme weiter "auszusitzen". Alternative Politikansätze sind deshalb gut beraten, mit der These "Reichtum teilen, Armut bekämpfen" neben individueller Armut diese (infra)strukturelle Armut stärker zu thematisieren. Auch hier spielen Wissenschaft und Bildung eine zentrale Rolle, ist doch das Bestehen einer jahrelangen krassen Unterfinanzierung in diesen Bereichen Konsens in einem breiten Spektrum politischer Kräfte, so dass hier ein Diskurs besonders einfach anschließen könnte.

Ohne schlüssige Antworten auf die zweite Frage, in welchen Formen und Strukturen eine sachgerechte und effiziente Verwendung dieser Mittel gesichert werden kann, wird man aber beim Ringen um eine angemessene Finanzierung von Infrastrukturarbeit auf verlorenem Posten stehen. Schließlich hat das derzeit vorherrschende Alimentierungsprinzip nach dem Gutdünken von Einzelpersonen, Regierungen und Parlamenten in entsprechenden Entscheidungspositionen offensichtlich seine Grenzen erreicht. Die großen Korruptionsskandale der letzten Zeit haben den Legitimationsdruck auf öffentliche Ausgaben erhöht, ohne zugleich angemessene Formen einer solchen Legitimation aufzuzeigen. Die aus durchsichtigen Gründen medial forcierte Diskussion um Missbrauch und Verschwendung derartiger Mittel macht eine sachlich fundierte Effizienzdiskussion um so erforderlicher.

Dass eine straffe staatliche, sprich bürokratische, Kontrolle im Sinne einer wirtschaftlichen Rechnungsführung hier etwas mehr Transparenz schaffen könnte, jedoch nicht die ultima ratio ist, bedarf - nicht nur mit Blick auf die Erfahrungen der DDR - wohl keiner Begründung. Das Problem liegt tiefer und ist auch nicht durch Bekämpfung von Korruption allein zu beantworten, wenn dieser Infrastruktursektor im Vergleich zum produktiven Sektor immer stärker an Gewicht gewinnt und vielleicht heute schon wichtiger als letzterer ist. Dann geht es nicht darum, Auswüchse zu beschneiden, sondern dessen Dynamik selbst zu steuern. Kurz, es erhebt sich die Frage, woran und wie man Effizienz in diesem Bereich messen kann. Im Rahmen der Diskussionen um die Rolle der "allgemeinen Arbeit" spielten derartige Fragen unter Ökonomen in der DDR schon einmal eine Rolle. Jedoch auch hier kann die Wissenschaftssphäre auf viel weiter zurück reichende und bereits in der Praxis erprobte Verfahren verweisen, da sie schon immer vor der Frage stand, die knappen Ressourcen "gerecht", also nach einer wie auch immer definierten Leistung, zu verteilen. Man verwechsle diese Erfahrungen bitte nicht mit Bewertungsformen, die sich vordergründig an einem wirtschaftsrelevanten Output orientieren, diese Traditionen konterkarieren und auch von der "etablierten" Wissenschaft als völlig inadäquat abgelehnt werden.

Wer sich schon einmal an Debatten um Formen der Bewertung wissenschaftlicher Leistungen beteiligt hat, weiß allerdings auch, dass man sich auf ein sehr heikles Feld begibt. Insbesondere sind quantitative Parameter dafür, trotz der Ergebnisse der Scientiometrie, nur bedingt geeignet. Dort, wo Wissenschaftler selbst damit konfrontiert werden, eigene Leistungen und die von Fachkollegen zu bewerten, hat sich ein auf Gutachten basierendes System fest etabliert und wohl auch bewährt. Aktuelle Überlegungen7 des "Committee on Science, Engineering, and Public Policy" der US-amerikanischen National Academies weisen in dieselbe Richtung. Dort wird für komplexere Bewertungen ganzer Forschungsgebiete sogar ein mehrstufiges Evaluierungsverfahren solcher Art vorgeschlagen. Das Komitee reagiert damit auf den "Government Performance and Results Act" der US-Regierung, mit dem diese die hier diskutierten Effizienzfragen für Bundesbehörden, die wissenschaftliche und technische Forschungen unterstützen, operationalisieren will.

Kehren wir jedoch zu den ökonomischen Bezügen unserer beiden Fragestellungen zurück. Marx hat sich in den "Grundrissen der politischen Ökonomie" bekanntlich eine Weile mit deren Einordnung in seine eigene ökonomische Theorie befasst. Er kommt zu der Erkenntnis, dass in einem stark wissenschaftlich geprägten Arbeitsumfeld

die Schöpfung des wirklichen Reichtums weniger abhängt von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie. (MEW 42, S. 592)

Die Effizienz solcher Arbeit kann dann auch nicht mit einem Zeitmaß gemessen werden, womit, wie Marx selbst feststellt, die von ihm entwickelte ökonomische Theorie einer Marktwirtschaft auch nicht anwendbar ist. Marktwirtschaftliche Mechanismen setzen die für produktive Arbeit notwendige Kompetenz der Arbeitskraft schlichtweg voraus, ohne danach zu fragen, wie sich diese individuelle Kompetenz herausbildet, aus welchen allgemeinen Quellen sie sich speist und wie sich diese Quellen regenerieren8. Die Probleme, in einer primär am Profitprinzip orientierten Gesellschaft ausreichend Mittel für derartige Prozesse zu allokieren, sind also nicht temporärer, sondern prinzipieller Natur. Das Ringen um angemessene Ressourcen für diese Bereiche wird stets mit dem Kampf um die Zurückdrängung von Profit- und Eigennutz-Kalkülen als primäre ökonomische Leitmotive zu verbinden sein. Da dies für Infrastrukturarbeit (im hier entwickelten Sinne) generell gilt, befinden wir uns damit unvermittelt an der vordersten Front einer allerdings recht unspektakulären Kapitalismuskritik. An einer Front jedoch, wo deutlich über Marx hinauszugehen ist. Im Zentrum steht die Frage nach einem neuen Effizienzprinzip, das dem Infrastrukturbereich angemessen ist und welches das für den produktiven Bereich sicher weiterhin gültige Prinzip der Ökonomie der Zeit ergänzen und überlagern muss. In einer weiteren Perspektive, eben mit dem Übergang zu einer Wissensgesellschaft, wenn sich im Sinne obigen Marxschen Zitats das Zentrum menschlicher Arbeit in den Infrastruktursektor, in die Vorbereitung von Produktion, verschoben haben wird, wird dieses neue Effizienzprinzip schließlich das gesellschaftlich dominierende werden, ohne das alte Prinzip der Marktwirtschaft gänzlich zu verdrängen.

An dieser Stelle Antworten auf die aufgeworfenen Fragen vorweg nehmen zu wollen wäre vermessen. Ein Detail einer solchen Gesellschaft ist aber bereits deutlich sichtbar: Eine Gesellschaft, in der nicht mehr eine (austauschbare) Arbeitskraft, sondern die individuelle Kompetenz eine zentrale Rolle spielt, muss der Ausprägung solcher Kompetenz genügend Freiraum einräumen. Die Freiräume des Einzelnen, seine individuellen Kompetenzen entsprechend seinen Neigungen und Fähigkeiten möglichst optimal auszuprägen und ständig weiter zu entwickeln, werden somit zur Voraussetzung für die Freiräume, die sich der Gesellschaft als Ganzes erschließen und umgekehrt9. Eine solche Gesellschaft ist damit um Größenordnungen abhängiger vom guten Zusammenspiel ihrer einzelnen Teile als die heutige. Eine solche Gesellschaft, und auch dies kann man am derzeitigen Wissenschaftsbetrieb in vielen Facetten studieren, funktioniert nur im Miteinander ihrer einzelnen Teile, nicht in ihrem Gegeneinander. Sie kann sich nicht auf der Basis eines allumfassenden Egoismus, sondern nur in solidarischer Interaktion entfalten. Ausbeutung fremder Arbeit (und in Zukunft vielleicht auch verstärkt fremder Ideen und Gedanken) als gesellschaftliches Grundprinzip bedingen aber ein solches Gegeneinander.

Dieser Solidargedanke, der den modernen technisch-technologischen Bedingungen entspringt und als Keim bereits in der heutigen Gesellschaft vorhanden ist, trägt damit eine immense gesellschaftsverändernde Sprengkraft in sich. Der Gedanke als solcher ist zwar alt, vielleicht so alt wie die Menschheit selbst, wird aber nun von der Vision zur unabdingbaren Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Menschheit, ja selbst für deren weitere Existenz, denn weder die sozialen noch die ökologischen Probleme wird man ohne einen solchen Fortschritt im kollektiven Selbstverständnis bewältigen können. Er schließt Wettbewerb, auch auf marktwirtschaftlicher Grundlage, ein, vermag ihn aber dort zu zähmen, wo Wettbewerb beginnt, sich gegen diese solidarische Grundlage selbst zu richten. Instrumente und Ansätze für eine solche Zähmung gibt es bereits heute, gerade auch im Bereich Wissenschaft und Bildung, mehr als genug. Diese Ansätze selektiv verstärken zu helfen sollte deshalb als roter Faden alternative Politikangebote durchziehen.

Fußnoten

(1)
BMWi-Report Die Informationsgesellschaft - Fakten, Analysen, Trends, Bundesministerium für Wirtschaft, Bonn 1995, S. 2

(2)
Zwischenbericht Eine europäische Informationsgesellschaft für alle einer Gruppe hochrangiger Experten unter dem Vorsitz von Prof. Luc Soete an die Europäische Kommission V, Brüssel, Januar 1996. (Aus der Zusammenfassung, S. 1-2)

(3)
Bericht der Bundesregierung Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, Bundesministerium für Wirtschaft, Bonn 1996.

(4)
Rainer Busch: Lernen aus dem Netz. c't 6/97, S. 280 - 283.

(5)
Quelle TIMSS

(6)
Hans-Gert Gräbe: Arbeit und Wissen in der modernen Gesellschaft.
In: "Der Osten im Übergang vom Industrie- zum Informationskapitalisums",
Heft 24 (1997) der Texte zur politischen Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., 41-55.
(http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/infopapers)

(7)
Paul A. Griffiths: Impact of the Government Performance and Results Act. Notices Amer. Math. Soc., vol. 46 (1999), 1197 - 1198.

(8)
(MEW 23, S. 407): Wie mit den Naturkräften verhält es sich mit der Wissenschaft. Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreise eines elektrischen Stroms oder über Erzeugung von Magnetismus im Eisen, um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut.
Und weiter in der Fußnote: Die Wissenschaft kostet den Kapitalisten überhaupt "nichts", was ihn durchaus nicht daran hindert, sie zu exploitieren. Die "fremde" Wissenschaft wird dem Kapital einverleibt wie "fremde" Arbeit. "Kapitalistische" Aneignung und "persönliche" Aneignung, sei es von Wissenschaft, sei es von materiellem Reichtum, sind aber ganz und gar disparate Dinge.

(9)
Eine solche Gesellschaft wird also eine kommunistische im Sinne des "Manifests" sein, in der an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation tritt, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. (MEW 4, S. 482)