Ökonomische Konzepte für den Sozialismus im 21. Jahrhundert unter Nutzung fortgeschrittener Informationstechnologien

Gemeinsame Veranstaltung von WAK-Leipzig und der BG "Wissenschaft"

Einführung in die Thematik: Horst Müller (Nürnberg)

13. September 2006, 18:30 Uhr, Harkortstraße 10, RLS Sachsen

Ankündigung

In der Veranstaltung soll über die Sozialismus-Vorstellungen im Buch (Dieterich-06) diskutiert werden. Der Autor leitet aus den Fortschritten der elektronischen Datenverarbeitung weit reichende Schlussfolgerungen für die Gestaltung der ökonomischen Verhältnisse auf der Basis äquivalenter Austauschbeziehungen und für den Übergang auf die direkte Demokratie ab. Diese ökonomische Konzepte mit stark regulatorischem Einschlag und Heinz Dieterich als Person spielen in den lateinamerikanischen sozialen Bewegungen eine wichtige Rolle. Wir wollen zu diesen Ansätzen ins Gespräch kommen und vielleicht auch noch einmal über Arno Peters' "Computersozialismus".

Hans-Gert Gräbe

Bericht

Im Verlauf des Vortrags und der Diskussion wurde der eigentümliche Charakter (auch) dieses Buches deutlich, das in den neuen sozialen Bewegungen große Resonanz gefunden hat. Neben der Vielzahl unkonventioneller Ideen und Ansätze ist es vor allem der apodiktische Stil des Verkündens "Ich weiß, wie's geht", der bei Menschen einen tiefen Eindruck hinterlassen mag, die sich auf der Suche befinden. Zugleich geht aber von einem solchen Messianismus eine nicht unerhebliche Gefahr aus - zumal, wenn er wie hier eine Vielzahl verschiedener theoretischer Versatzstücke brilliant aneinanderreiht, so dass jeder Stellen und Argumentationen finden wird, zu denen er Affinitäten entwickeln kann. Denn - neben guten Gründen dagegen, dass es je wieder eine neue "Heilslehre" geben wird - zeigt eine gründlichere Analyse besonders der ökonomischen Vorstellungen Dieterichs, dass es diese Lehre bestimmt nicht sein kann.

In seinem Vortrag kritisierte Horst Müller denn auch vor allem den hochgradig konstruktivistischen Ansatz der ökonomischen Überlegungen Dieterichs. Weder die Hoffnung, dass es allein die nicht genügend leistungsfähige Rechentechnik der 60er Jahre gewesen sei, welche einer computergestützten Prospektierung ökonomischer Prozesse entgegen stand, noch die Erwartung, dass in solchen Strukturen die kreativ-keimförmigen Elemente von Innovationsprozessen aufgefangen werden können, entspricht der praktischen Alltagserfahrung von Menschen, die real mit der Widersprüchlichkeit solcher Planungsprozesse zu tun haben. Auch die philosophische Grundlegung von Dieterichs Gedankengebäude ist - vorsichtig gesprochen - unzureichend. Sie besteht aus einem Sammelsurium von Versatzstücken, das ernsthafte Fundierungsversuche vor und in der Kybernetikdebatte der 50er und 60er Jahre gar nicht erst zur Kenntnis nimmt - etwa die Blochschen Kategorien der Latenz und immanenten Transzendenz. Der in (Dieterich-06) und auch schon in (Peters-00) präsentierte Neuaufguss überholter, weil zu einfach gedachter Kybernetik-Konzepte kann auch aus diesem Grund nur frustrieren.

In eigentümlichem Gegensatz dazu steht die Beschreibung der heutigen neoliberalen Wirklichkeit als Triumph der Chrematistik über die Oikonomie, des Bereicherungsgedankens über den Gedanken des Äquivalententauschs. Letzteren (wieder?) in sein Recht einzusetzen wird - nach Dieterich - möglich mit der allgemeinen Rechnungsführung. Dass hierbei nicht nur Arbeitszeiten, sondern auch Ressourcenströme zu bilanzieren sind, weiß jeder Betriebswirt. Dass es genau die Passförmigkeit dieser Ressourcenströme ist, welche Marktwirkschaft einerseits auf wundersame Weise (und heute zunehmend schlechter) herstellt, und auf der anderen Seite Wirtschaftsplaner unter realsozialistischen Bedingungen dazu trieb, die eigenen Planungs-Prinzipien zunehmend aufzugeben - zu diesen Erfahrungen setzt sich Dieterich an keiner Stelle ins Verhältnis. Neben der Frage, wie weit marktwirtschaftliche Elemente zur Steuerung der heutigen komplexen ökonomischen Prozesse einfach erforderlich sind, ist es eine weitere Verkürzung, heutige staats-planerische Prozesse allein als "Missbrauch des Staats durch die herrschende Oligarchie zur systematischen Ausplünderung der Mehrheit" zu betrachten. Das nimmt zwar wichtige Funktionen des heutigen Staats auf, verliert aber dessen sich geschichtlich parallel entwickelnde Verwaltungsfunktionalität zur Schaffung und Reproduktion einer leistungsfähigen regionalen Infrastruktur (oder - aus Sicht des Referenten - dessen Funktion bei der Organisation der "sozialwirtschaftlichen Dienste", siehe etwa (Müller-01)) zu stark aus dem Auge. Kapitalismus kann heute nicht mehr allein in Termini des 2. Bands des "Kapitals" erklärt und verstanden werden.

Die kritischen Töne dominierten auch die anschließende Diskussion. Insbesondere die Ignoranz gegenüber den wirtschaftsplanerischen Erfahrungen ökonomisch fortgeschrittener sozialistischer Länder wie der DDR oder Jugoslawiens kamen zur Sprache. Schließlich waren es die gerade die "zweitrangigen" Fragen, die sich nach Dieterichs Vorstellung fast im Selbstlauf lösen, wenn denn nur "die große Linie" stimmt, zu denen es im Rahmen sozialistischer Wirtschaftstheorie viele zu Dieterichs Grundansatz vollkommen passförmige Überlegungen gegeben hat. Wenn sich die Praxis deren Umsetzung immer wieder auf eine Weise verschloss, die letztlich zum Krach des gesamten Systems führte, so ist - vorsichtig formuliert - eine größere Vorsicht bei einer Neuauflage dieses Ansatzes angezeigt.

Bleibt die Frage, was - trotz aller Kritik - von dem Buch und dessen Resonanz bleibt. Nach meinem Verständnis sind es - im angebotenen Gemischtwarenladen von Konzepten - vor allem die "Andockstellen" der Rezeption, die einer genauern Analyse bedürfen. Diese liegen - wie auch in der Rezension von Heiko Feldmann ausgeführt - wohl eher in den Ausführungen Dieterichs zu partizipativer Demokratie und einem systemtheoretischen Verständnis der Welt als eines selbstähnlichen Gebildes, was impliziert, dass es sinnvoll ist, große Veränderungen erst und schon mal im Kleinen auszuprobieren. Ein solcher "Selbstermächtigungsansatz" steht übrigens in ausgesprochenem Widerspruch zu den ökonomischen Vorstellungen Dieterichs über eine durchgängig zentralisierte Planung der Produktion, selbst wenn diese Planung in mehreren Ebenen erfolgt. Dieterich reproduziert damit den Ansatz der Existenz einer äußeren Ratio, welcher von Kant und Hegel - insbesondere in dessen Staatsverständnis - bis hin zum neoliberalen Begriff einer "Marktlogik" nachgezeichnet werden kann und Menschen letztendlich entmutigt, den eigenen Verstand umfassend zu gebrauchen. Es steht aber das Umwälzen all jener Momente auf der Tagesordnung, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (MEW 1, S. 385). Und hierfür gilt es zu begreifen, dass es die in die Tat umgesetzten widersprüchlichen Erwartungen der Menschen selbst sind, welche diese Welt strukturieren und treiben. Jegliche Regulationsform muss dieser Widersprüchlichkeit genügend Raum zur Entfaltung und zum Prozessieren bieten.

Kurz, in der Diskussion bestätigte sich der Tenor der bisherigen Rezensionen: Ein Buch, das aus theoretischer Perspektive in seiner Gesamtheit nicht zu ernst genommen werden sollte, aber genügend Ansatzpunkte enthält, um zu hinterfragen, warum eine Reihe wohlfeiler linker Konzepte in den neuen sozialen Bewegungen auf so wenig Resonanz treffen. Ansätze zu neuen Antworten auf alte Fragen finden sich in dem Buch zuhauf. Man sollte nur nicht meinen, dass es diese Antworten - die zu finden es sicher großer gemeinsamer intellektueller Anstrengung bedarf - bereits gibt.

Alle diese Überlegungen finden sich auch in der sehr fundierten Kritik von Heiko Feldmann, der wohl kaum etwas hinzuzufügen ist.

Hans-Gert Gräbe, 18.09.2006

Literatur

(Cockshott-06)
W. Paul Cockshott / Allin Cottrell: Alternativen aus dem Rechner (Towards a New Socialism). Für sozialistische Planung und direkte Demokratie. Köln 2006.
Übersetzung des englischen Originals aus dem Jahre 1993.

(Dieterich-06)
Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts -- Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus. Kai-Homilius-Verlag, Berlin 2006.

Rezensionen:

(Müller-01)
Horst Müller: Die Staatsquote und Transformationstendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft. Utopie kreativ 132 (2001), 909-924 (pdf)

(Peters-00)
Arno Peters, Konrad Zuse: Computer-Sozialismus - Gespräche mit Konrad Zuse. Verlag Neues Leben 2000.


Prof. H.-G. Gräbe